Hexenprozesse in alter und neuer Zeit
Kurt Tucholsky (1920)
Es gibt ein
dickes zweibändiges Werk von Soldan-Heppe <Geschichte der
Hexenprozesse>. (Neu herausgegeben von Max Bauer, Georg Müller,
München.) Mit Druckerschwärze gedruckt. Mit Blut geschrieben. Es gab größere
Roheiten, aber es gab wohl kaum auf der Welt eine kältere Grausamkeit als in
diesen alten Protokollen der Hexenprozesse: «Wird gebunden, winselt: könn es
nicht sagen, soll ich lügen? Oh weh, oh weh liebe Herren! Bleibt auf der
Verstockung. Der Stiefel wird angetan und etwas zugeschraubt. Schreit: Soll ich
denn lügen, mein Gewissen beschweren, kann hernach nimmer recht beten! Wird
weiter zugeschraubt, heult jämmerlich.» Und dies war eine Frau, die im Jahre
1662 in Eßlingen auf der Folter lag.
Ihr
wißt doch wies war: Auf der schmalen Grundlage der wirklichen Existenz von
hysterischen Frauen und neurasthenischen Männern, auf der Grundlage, daß es
Religionsreformatoren gab, die das heilige Dogma und die heilige Kasse Roms
störten, baute sich der Glaube an die Hexen in Europa auf. Was im Leben verquer
gehen mochte: die Hexen waren daran schuld. Und bei einem solchen Hexenprozeß
kam mancher mit mancherlei auf seine Kosten. Die Wichtigmacherei von Ämtern,
die Betonung des kirchlichen Machtstandpunktes, Denunziationssucht,
persönliche Feindschaften und die Raserei eines Blutrausches, der die Gehirne
völlig umnebelt hielt.
Denn nicht das war das Furchtbare, daß es dergleichen
gab, sondern daß keiner — Richter nicht und Zuschauer nicht — das Entsetzliche
empfanden, wenn ein zerfolterter Stumpf im dicken Turm in Schweiß, Blut und
Dreck sich die letzten Schreie abpreßte. Es ist ja nicht wahr, wenn heute der
liberale Geschichtsschreiber entschuldigend hinzufügt, die Richter dieser Zeit
seien eben im Wahn ihrer Epoche befangen gewesen. Menschenleid ist zu allen
Zeiten dasselbe gewesen, und wer es nicht gefühlt hat, wenn es ihm ans Herz
klopfte, hatte das schlimmste Laster, das Weise, Religionsstifter und Ethiker
kennen: die Trägheit des Herzens. Blinde wurden gefoltert, lallende Greise und
kleine Kinder, mehr als einmal ist es vorgekommen, daß schwangeren Hexen auf
dem Holzstoß das Kind aus dem Leibe sprang: und irgendein schwarztalariger
Schuft saß dabei und blätterte gleichmütig
in seinem <Hexenhammer>, wie das widerwärtigste und
hinterhältigste Prozeßbuch aller Zeiten hieß. Das Urteil der Geschichte über
die Hexenprozesse, die übrigens vorwiegend die katholische Kirche belasten,
ist fertig. Aber die Knochen der Geschundenen, verscharrt oder verbrannt, sind
dahin, und keine Sekunde Qual und kein Tropfen Todesschweiß kann durch dieses
Urteil der Geschichte ausgelöscht werden. Die Peiniger hören es nicht mehr, zu
ihren Lebzeiten waren es große Herren, und das Ganze wäre vergraben und
vergessen.
Wenn wir heute
nicht die Militärjustiz hätten.
Wenn
nicht heute — seltsam umgekehrt, aber im Grunde gleichartig — dasselbe
Schauspiel noch einmal aufstiege: gequälte und getötete Menschen und befriedigt
grinsende Quäler.
Zu
Beginn der großen Zeit haben wir Bücher, Broschüren und täglich zweimal die
Presse über uns ergehen lassen müssen, die da predigten, so etwas Aufgeklärtes,
Fortgeschrittenes, Wertvolles wie die Deutschen unsrer Zeit gäbe es überhaupt
nicht mehr. Die deutschen Militärprozesse der Gegenwart sind umgekehrte
Hexenprozesse.
Die Tatsache, daß ein
politischer Gefangener, der das Unglück hat, in die Hände der Reichswehr zu
fallen, vogelfrei und rechtlos geworden ist, bekümmert hierorts kein Gemüt.
Ein sausendes Koppelschloß, kalte und verschmutzte Zellen, halb ausgehungerte
Menschen, die vor einem uniformierten Monokelmann zwecks Herstellung eines
Geständnisses angebrüllt werden — hier ist reines Mittelalter. Denn das
verstehen wir ja darunter: daß alle an den Zweck denken, aber keiner an das
Individuum. Die Pfaffen und ihre Richter im Mittelalter hätten schön getobt,
wenn einer etwa ihre Mütter oder ihre Schwestern so zugerichtet hätte, wie sie
es mit ihren Hexen taten. Nur wäre ihnen eben ein Vergleich gar nicht in den
Sinn gekommen. Es waren ja nur Hexen ...
Es
sind ja nur Sozialisten... Kommt bei den modernen Militärgerichten noch der
verderbliche politische Zweck hinzu, der doppelt verwerflich ist, weil man den
Haß unter dem Paragraphen verbirgt, so verschiebt sich der Vergleich zwischen
Gegenwart und Vergangenheit zugunsten der alten Zeiten. So wie das Prozeß- und
Exekutionsverfahren gegen die Hexen völlig einseitig war (der
Untersuchungsrichter war letzten Endes überhaupt an keine Bestimmung
gebunden), so dünkt dem deutschen Normalgehirn jedes Mittel gegen die
Landesfeinde recht, die er neuerdings <Bolschewisten> nennt. Das Wort ist
neu. Der Begriff ist alt. Gemeint ist also ziemlich alles, was nicht
deutschnational ist oder dem Zentrum angehört (selbst der große Haufe erzkonservativer
Juden, die bei der Demokratie stehen, gelten dem deutschen Bürger als
revolutionär).
Wo
ist ein Unterschied zwischen dem Hexenprozeß in alter und neuer Zeit? Die von
früher waren ehrlicher. Sie legten sich gar keine Scheu auf, sie taten auch
nicht so als ob — sie zerquälten, vergewaltigten, zerschnitten und
zerprügelten, was ihnen als verdächtig eingeliefert wurde. Wir sind vornehmer
geworden, wir haben Paragraphen. Wir haben eine Justitia, die, mit Binde und
Waage abgebildet, das Werk der Militärrichter krönt. Und die haben gute Nerven,
weil sie ja die Qualen, die sie verhängen, oder deren Ausübung sie durch ihren
Freispruch der Kameraden begünstigen, nicht mitanzusehen brauchen. «Ein Weib in
Düren, das in wiederholter Pein standhaft leugnete, blieb, mit ungeheuren
Beingewichten beschwert, an der Schnur hängen, während der Vogt zum Zechen
ging; als er wiederkam, hatte der Tod die Arme von allen Qualen erlöst. Diesem
Vogte fehlte indessen die Geistesstärke, mit der man sonst in solchen Fällen
behauptete, daß der Teufel sein Opfer geholt habe; er wurde wahnsinnig.» Die
marburger Richter werden ihren Verstand, soweit das Militär einen solchen
duldet, behalten . . .
Die
vollkommene Nichtachtung der Menschenleben kennzeichnet die Epoche des
mittelalterlichen Blutrausches. Ganze Geschlechter durchtobten ihre Zeit,
hypnotisiert von einer Idee: von der Idee des Hexenwahns. Sie sahen kein Blut
und keine Schwären, keine aufgetriebenen Frauenleiber und keine zerbrochenen
Beine — sie sahen nur die Idee. Unsere sehen keine marburger Arbeiterleichen,
keinen Hans Paasche, keinen
Schottländer, keine Matrosen, keine Frauenleiche im Wasser — sie sehen nur ihre
Idee. Die Idee der absoluten Herrschaft eines verblödenden und rohen
Militarismus (jeder Mann sein eigener Feldwebel!) — die Idee Ludendorffs.
Die
Gegner der Hexenprozesse wurden als Zauberer und Ketzer verschrien,
exkommuniziert, verhaftet und verbrannt. Die Gegner der Militärjustiz werden
als <Bolschewisten> verschrien, verhaftet und ermordet.
Die Hexenprozesse haben aufgehört, als sich eine neue
Erkenntnis in den Köpfen Bahn brach. Die Militärprozesse dieser Schandjustiz
werden aufhören - -
Wann werden sie
aufhören?
Anmerkung:
Man kann heute den Bogen weiter spannen. Hexenprozesse und Schandprozesse in
der Weimarer Republik fanden ihre Fortsetzung in der Blutjustiz der Nazis,
insbesondere des Volksgerichtshofs, der Sondergerichte und der Strafsenate der
Oberlandesgerichte. Damit nicht genug. Nach dem Zusammenbruch setzten jene
belasteten und diskreditierten Richter und Staatsanwälte ihre „Karrieren“ in
der Bundesrepublik fort; in Schleswig-Holstein machten diese zeitweilig bis zu
90 %, beim Bundesgerichtshof etwa 70 % der Richterschaft bzw.
Staatsanwaltschaft aus. Geläutert – wie es sich Kurt Tucholsky gewünscht hätte
– waren sie allemal nicht. Flugs hatten viele ihr braunes Parteibuch
eingetauscht gegen eines der Systemparteien. Mitgliedschaften bei Rotary oder
LIONS verhalfen zu Präsidentenposten oder zumindest Beförderungsstellen. Dem
demokratischen Wandel hatte man sich – mehrheitlich nur vordergründig –
angepasst. Hinter der Fassade lauerte jedoch immer noch eine autoritäre und
tendenziell sadistische Fratze. Die Verfolgung von Außenseitern, Querdenkern
und kritischen Geistern führt regelmäßig zu Rachefeldzügen außerhalb der
verfassungsmäßigen Ordnung. Ich denke nur an Katharina E., Reinhard M., Uwe K.
usw. Natürlich sind die Methoden subtiler geworden; an ihrer gelegentlich
existenzvernichtenden Wirkung mangelt es jedoch nicht. Wer’s nicht glaubt, der
frage unseren „Staranwalt“ Rolf Bossi (CSU). Er sagte zu diesem Thema: „Ich werde bis zum letzten
Atemzug kämpfen gegen das illegale Fortbestehen des Dritten Reichs in der
Justiz“. Und ein pensionierter Richter am Landgericht Stuttgart schrieb im
April 2008 einen Leserbrief an die „Süddeutsche Zeitung“, er habe unzählige
Richter und Staatsanwälte erlebt, die man schlicht „kriminell“ nennen kann
(Frank Fahsel in SZ vom 9.4.2008).