Handlanger-Justiz

 

Die Herrschenden und die "Dritte Gewalt"

 

Uns wird von klein auf eingetrichtert, daß man das Gute tun und das Böse lassen soll: »Unrecht Gut gedeihet nicht.« »Ehrlich währt am längsten.« Solche Sprüche sollen die Erfahrung verschleiern, daß nicht derjenige bestraft wird, der böse ist, und der Gute gelobt wird, sondern daß Strafen und Loben Mittel zur Durchsetzung von Interessen sind. Im Bereich der Justiz wird Gut und Böse, das, was sein soll und das, was nicht sein soll, durch die Gesetze bestimmt. Die Gesetze werden erlassen von denen, die die Macht dazu haben, Das sind im kapitalistischen Staat die Herrscher über Produktion und Wirtschaft und ihre Hilfsinstitutionen wie Presse, Fernsehen, Kirche und systemtragende Parteien. Sie bestimmen über Lob und Tadel. Allerdings nicht selbst. Wenn sie es selbst täten, würden die Massen das zu schnell entlarven. Es wäre offenkundig, daß sie in eigener Sache urteilen. So sind sie gezwungen, eine Institution zu schaffen, die sie »Dritte Gewalt« nennen, und die metaphysisch verbrämt auftritt, als schöpfe sie aus gesellschaftlich unabhängigen Quellen jenseitige Weisheit.

 

Man nennt die Justiz unabhängig, um zu vertuschen, daß sie ausführt, was die Herrschenden ihr in Form der Gesetze befehlen. Auf diese Weise wird gesellschaftliches Unrecht, das durch die Justiz verübt wird, zunächst nur dieser, d. h. der Unfähigkeit von Richtern, Staatsanwälten, Rechtsanwälten etc., ihren reaktionären Haltungen angelastet, und die Aggression wird von den eigentlich Verantwortlichen abgelenkt. Der Inhaber der Macht unterliegt dem Zwang, gegenüber den Beherrschten sein Herrschaftssystem zu legitimieren. Er muß verhindern, daß die Beherrschten merken, daß sie gewaltsam beraubt werden. Sie müssen so erzogen werden, daß ihnen dieses räuberische System als gut und ein Umsturz desselben als böse erscheint. Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse lernt das Kind daran erkennen, daß es für das eine Tun, das Folgsamsein gegenüber Befehlen, mit Liebe belohnt wird, und für das andere Tun mit dem Entzug von Liebe, etwa durch Zufügung von körperlichen Schmerzen, bestraft wird. Das Kind erfährt, daß es zu schwach, also machtlos ist, sich den ihm gegebenen Befehlen zu widersetzen, auch wenn es sieht, daß es nur gezwungen werden soll, fremde Interessen über seine eigenen zu stellen.

 

Wenn aber den Unterdrückten die Unterdrückung bewußt wird, wird das für die Herrschenden gefährlich. Diese sind dann gezwungen, sich den ihnen Unterworfenen anzubiedern und die Fiktion aufzustellen, daß auch sie Unterworfene seien, die einer über ihnen und über der gesamten Gesellschaft stehenden Autorität zu gehorchen hätten: einem Gott mit seinen zehn Geboten, der Fügung eines unergründlichen Schicksals oder dem Lauf der Welt mit ihren Naturgesetzen. So hat es seine Funktion, wenn ein Kaiser barhäuptig in einer Feldkapelle kniet oder ein amerikanischer Präsident rührselig mit Tränen in den Augen verkündet, er folge wieder einmal dem Zwang seines Gewissens. Deshalb muß verkündet werden, vor einem übermächtigen Gesetz seien alle gleich, der Reiche darf ebensowenig stehlen wie der Arme, und auch ein Millionär darf schließlich keine Frauen schänden. Diebstahl ist rechtswidrige Aneignung. Welche Aneignungsform rechtswidrig ist, bestimmt derjenige, der schon besitzt, also die Aneignungsform des Klauens nicht mehr nötig hat, dafür aber die der Ausbeutung abhängiger Arbeitskraft betreibt. Und der bestimmt auch, daß jemand, der einen Teil des so angeeigneten Reichtums mit der Brechstange für sich zurückholen will, im Gefängnis verschwindet. Dieser Mechanismus ist durchschaubar: es ist der gesellschaftliche Widerspruch zwischen Herrschern und Beherrschten.

 

Auf der anderen Seite dieses Widerspruchs finden jedoch auch Kämpfe statt. Und so haben sich die Unterdrückten in jahrhundertelangen Kämpfen und Aufständen eine Reihe von Rechten erkämpft, die Gesetz geworden sind. Gegen die Interessen der Herrschenden. Und so ist die herrschende Klasse ständig und mit einigem Erfolg bemüht, den Unterdrückten diese Rechte wieder zu nehmen. Wenn sie keine legale Handhabe haben, dann eben auf anderem Weg. Dazu bedürfen sie der Angst des Einzelnen, seiner Angst vor schwarzen Roben und vergitterten Fenstern, vor Ausweglosigkeit, Diskriminierung und Ausstoß aus der Gesellschaft ‑ um ihn "bei der Stange", also in seiner unterdrückten Position zu halten. Aber so, daß er dieses Gefühl nicht als Angst bewußt empfindet. Er könnte sich dann dagegen wappnen, sich zum Beispiel Mut durch Solidarisierung machen. Die Angst soll vielmehr als ein allgemeines Unbehagen wirken, das einen die Ruhe des Ausgebeutetwerdens der Unruhe des Streites vorziehen läßt. Nur so sind Sprüche gemeint, wie: »Du hast Recht und ich hab meine Ruhe« oder »Der Klügere gibt nach«. ‑ Eine Welt von klugen Ausgebeuteten und von dummen Reichen?

 

Die in Dir von Deinen Unterdrückern erzeugte Angst wird Dir als »Klugheit« verschleiert. Du sollst Dir von Deiner Frau, wenn Du ohne Erfolg nach Hause kommst, nicht vorwerfen lassen, Du hättest Angst gehabt, sondern Du sollst ihr entgegenhalten können, daß es so »das Beste« ist, man hätte anderenfalls bloß eine Menge Ärger gehabt. Also setzt man sich nicht in die Nesseln, sondern gibt auf, und sieht nicht, daß man soeben die Möglichkeit hatte, den anderen in die Nesseln zu setzen.

 

Deine Angst kommt aber auch aus anderen Erfahrungen, die Du machen mußtest:

 

‑ Dein Chef oder Dein Hauswirt kann besser reden als Du. Du kommst also kaum zu Wort.

 

‑ Du hast Angst, Du könntest Dich verhaspeln oder etwas Dummes sagen. Er hat seinen Anwalt oder »Experten« dabei, der Dich kleinkriegen soll und Dir die Ohren mit Paragraphen vollredet.

 

‑ Du weißt so schnell keinen, der dem Deine Meinung geigt. Er hat »Erfahrung«.

 

‑ Im Gericht sprechen sie nicht Deine Sprache. Sie gebrauchen Worte, die Du nicht verstehst, weil sie nur für Eingeweihte gedacht sind.

 

‑ Du sollst nämlich das, was sie dort verbraten, für große Weis­heit halten, gegen die Du nicht kämpfen sollst. Und Du sollst es gar nicht erst versuchen. Du sollst Deine Unterdrückung und Ausbeutung für Recht halten.

 

‑ Du sollst sogar Angst haben, einen Anwalt zu nehmen. Anwälte gehören zu der Klasse Deiner Ausbeuter. Sie sind in erster Linie denen verbunden, die als Justiz die herrschende Klasse schützen. Und sie haben einen Hauptwunsch, nämlich reich zu werden oder reich zu bleiben. Und Du bist für sie eine Möglichkeit, auf diesem Wege etwas dazuzuerwerben. Du mußt also erstmal Vorschuß zahlen. Egal ob Du was davon hast oder nicht. Und wenn der Anwalt für Dich einen Prozeß führt, bekommt er noch mehr. Also führt er gerne einen Prozeß, denn er geht damit kein Risiko ein. Er verdient damit Geld. Wenn er ihn verliert, ist es Dein Geld. Aber er hat es. Du überlegst es Dir also, ob Du Geld und Zeit aufwenden sollst, um jemanden zu beauftragen, der doch auch nur Profit aus Dir ziehen will.

 

‑ Für Dich ist der Kampf um Dein Recht immer eine aufregende Ausnahme, die Dich Nerven und zusätzlichen Aufwand an Zeit, Geld und Arbeit kostet. Der Richter, der Kriminalbeamte, der Chef, der Lehrer oder der Hauswirt haben gelernt, mit Dir fertig zu werden. Du bist nicht mal Amateur ‑ sie sind Profis.

 

Das zeigt, daß es zwar wichtig ist, seine Rechte zu kennen, daß es aber solange nichts nützt, wie Dich Ängste und Hemmungen lähmen, die Dir die Herrschenden mit ihrer Erziehung und ihrer Moral einimpfen.

 

Die Herrschenden haben es sehr gut verstanden, sich mit unseren Nerven gegen uns zu verbünden.

 

Quelle: "Wie man gegen Polizei und Justiz die Nerven behält" von Klaus Eschen / Sibylle Plogstedt / Renate Sami / Victor Serge, Berlin 1973, S. 5 - 8