Greifbare Gesetzeswidrigkeit

 

Der Bundesgerichtshof auf der Suche nach der Schmerzschwelle

 

Es gibt Prüfsteine, an denen auch der schärfste juristische Intellekt seine Grenzen findet. So bleibt meist nur das Eingeständnis der Hilflosigkeit, wenn es darum geht, schwer faßbare unbestimmte Rechtsbegriffe oder allumfassende Generalklauseln nachvollziehbar und präzise einzugrenzen. Wer weiß schon ganz genau, welches Schmerzensgeld "der Billigkeit" entspricht oder wann der Schuldner, noch gerade eben "treu und gläubig", die Leistung verweigern durfte? Ähnlich schwierig wird es, wenn die unwiderstehliche Kraft auf den unüberwindlichen Widerstand trifft, und ihrer Natur nach unvereinbare Gegensätze in Einklang gebracht werden sollen. Eben auf diese Weise zwischen Skylla und Charybdis, nämlich in das Spannungsfeld zwischen Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit, begibt sich, wer über die Zulässigkeit einer "Ausnahmebeschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit" konkret entscheiden will.

 

Der Rückgriff auf dieses zur Korrektur zumindest gröblichsten Justizunrechts anerkannte übergesetzliche Rechtsmittel setzt voraus, daß zunächst eine eigentlich nicht mehr angreifbare Fehlentscheidung in die Welt geraten ist. Darüber hinaus muß das Judikat nicht nur schlicht falsch, rechtswidrig oder unvertretbar sein, es muß "mit der Rechtsordnung schlechthin unvereinbar" erscheinen. In diesem Fall ist die Angelegenheit "greifbar gesetzwidrig", und der Gerechtigkeit kann durch höheren Ratschluß doch noch zum Sieg verholfen werden.

 

Man könnte nun meinen, daß sich vage Begriffe wie die "Greifbarkeit" der Gesetzwidrigkeit oder die Frage, wann etwas "schlechthin" mit der Rechtsordnung nicht mehr zu vereinbaren ist, redlicherweise nicht durch einen allgemeingültigen, praktisch umsetzbaren Rechtssatz definitorischen Charakters fassen ließen.

 

Aus guten Gründen hat die Praxis ja auch vergleichbar schwammige Ausgangspunkte, z. B. den der "billigen Entschädigung" bei der Bestimmung der Schmerzensgeldhöhe, in jahrzehntelanger Arbeit durch eine detaillierte Kasuistik erst praktisch einigermaßen zuverlässig umsetzbar machen müssen (vgl. die aktuelle Übersicht bei SCHNEIDER/BIEBRACH, Schmerzensgeld. 1994). Ein Lichtstrahl von höchster Stelle hat in diesen Tagen gezeigt, daß solch komplizierte, zeitraubende Verfahren jedenfalls bei der Ausnahmebeschwerde überflüssig sind (BGH, Beschl. v. 26. 5. 1994 ‑ 1 ZB 4/94). Anlaß war folgendes: Das OLG München hatte in einem Berufungsverfahren, unter Nichtbeachtung der sowohl vom BGH in gefestigter Rechtsprechung als auch von ganz überwiegenden Teilen der Literatur vertretenen Klageänderungstheorie, gegen den Widerstand des Klägers auf einseitigen Antrag des Beklagten hin festgestellt, daß ein Rechtsstreit erledigt sei.

 

Der Kläger verwies insbesondere auf die höchstrichterlichen Entscheidungen, nach denen dies vollkommen unvertretbar wäre, und legte Ausnahmebeschwerde ein. In Karlsruhe erkannte man schnell, daß das OLG seine Vorgehensweise nur auf inzwischen fast exotisch erscheinende, vereinzelte Literaturauffassungen stützen konnte. Folgerichtig steht in der BGH‑Entscheidung (a. a. O.) dann auch, das Urteil des OLG München sei ein Fehlurteil gewesen.

 

Nun mußte der BGH aber noch abgrenzen, ob der Spruch aus Bayern auch falsch genug war, um die Ausnahmebeschwerde zu rechtfertigen.

 

Der erste Zivilsenat erlag der Versuchung, auf einfachstem Kurs durch schwierigste Gewässer zu steuern, und legte, auf knapp einer Schreibmaschinenseite, konkret und verbindlich fest, wann ein Urteil zwar falsch, aber noch nicht "schlechthin unvereinbar mit der Rechtsordnung" ist:

 

"Eine greifbare Gesetzwidrigkeit, die ausnahmsweise die Zulassung eines im Gesetz ausdrücklich ausgeschlossenen außerordentlichen Rechtsmittels rechtfertigen könnte, liegt nicht schon dann vor, wenn die angegriffene Beurteilung zwar aus dem Blickwinkel einer herrschend gewordenen Meinung schlechthin unvertretbar erscheint, diese Meinung ihrerseits jedoch nicht unumstritten ist und einzelne namhafte Autoren Auffassungen vertreten haben, die die gerichtliche Beurteilung zu stützen geeignet sind."

 

Der Satz ist schlimmer, als er auf den ersten Blick erscheinen mag. Auf den Punkt gebracht, steht dort nämlich:

 

"Egal, wie groß der Unfug ist, hat ihn ein namhafter Autor schon irgendwann einmal veröffentlicht, dann ist diese Auffassung mit der Rechtsordnung jedenfalls nicht schlechthin unvereinbar."

 

Die Namhaftigkeit des Verfassers definiert also den Inhalt der Rechtsordnung. Das ist, gelinde gesagt, verblüffend.

 

Und überhaupt, wer entscheidet das mit der Namhaftigkeit"? Der BGH selbst? Die Anzahl der Veröffentlichungen?

 

Die Entscheidung ist mit dem Urteilsstichwort "Greifbare Gesetzwidrigkeit II" überschrieben. Es bleibt abzuwarten, was man in den Entscheidungen "Greifbare Gesetzwidrigkeit III, IV, usw." lesen wird.

 

Denn so schlecht ist der Ansatz des BGH ja auch wieder nicht. Die Mitglieder des ersten Zivilsenats müßten sich eigentlich nur noch über die Sache mit der Namhaftigkeit Gedanken machen. Man könnte hier passendere Attribute finden. Nur zur Anregung: wie wäre es, auf die Ansichten eines "guten", eines "gerechten" oder vielleicht, klarer noch, auf die eines "nicht vorbestraften" Verfassers abzustellen?

Quelle: Assessor Rüdiger Donnerbauer, Herne in ZAP vom 17.8.1994 / S. 749f

Anmerkung: Einmal mehr wird bewiesen, daß die Jurisprudenz keine Wissenschaft und nicht einmal Handwerk ist, sondern eine beliebige Anhäufung von Rabulistik und Taschenspielertricks.