Deutsche Richter - nach wie vor ein Gruselkabinett
Von einer Vertrauenskrise der
Justiz kann in Wahrheit keine Rede mehr sein. Eine Krise ist jener ungewisse
Zustand, in dem sich etwas entscheiden soll: Tod oder Leben ‑ Ja oder
Nein. Die deutsche Arbeiterschaft hat entschieden: Nein.
Abgesehen davon, daß es keinen
unpolitischen Strafprozeß gibt, weil in der Welt überhaupt nichts unpolitisch
ist, darf gesagt werden, daß wir eine Rechtsprechung und eine Rechtsfindung bei
politischen Tatbeständen nicht haben.
Bei einer administrativen
Maßnahme, etwa der Verweigerung einer Schankkonzession, nimmt kein vollsinniger
Mensch an, daß die verweigernde Behörde mit der Begründung ihrer Ablehnung
einen objektiven Befund festgestellt habe; sie hat nur vom Verfügungsrecht
einer verwaltenden Staatsbehörde Gebrauch gemacht. Die Konzessionsverweigerung
entehrt den abgewiesenen Schankwirt nicht, sie besagt auch nichts über das
tatsächliche Bedürfnis nach Schankstätten. Ein solcher Beschluß ist nichts als
eine Maßnahme der Verwaltung, vorgenommen aus Zweckmäßigkeitsgründen. Folgerungen
sind nicht daran zu knüpfen ‑ jede Tätigkeit einer Verwaltungsbehörde
sagt nur über sie selbst etwas aus.
So, genau so sind die
Gerichtsurteile der letzten Jahrzehnte anzusehn, soweit sie sich mit rein
politischen Tatbeständen befassen.
Sie sind ausschließlich als
Kampfmomente im Streit der Klassengegensätze zu werten. Das deutsche Volk hat
in seiner überwiegenden Mehrheit, soweit es politisch aufgeklärt ist, kein
Vertrauen mehr zu dieser politischen Justiz, und sie verdient auch keins.
Daran konnte weder ein
feierliches Edikt des geölten Herrn Simons etwas ändern, noch der lustige
Gedanke der Bestellung von <Justiz‑Pressechefs>. Wir haben von der
offiziellen Pressekonferenz reichlich genug und wissen, was dort im Kriege und
nach dem Kriege zusammengelogen worden ist; es ist ein bemerkenswerter
deutscher Aberglaube, eine Sache damit zu entschuldigen, daß man ihren
technischen Hergang erklärt. Unbeachtlich, wenn von den Justiz-Pressechefs
eingewendet wird, man dürfe nicht in ein schwebendes Verfahren eingreifen;
unbeachtlich, wenn auf angeblich vorhandene Bestimmungen hingewiesen wird;
unbeachtlich der ganze Hokuspokus größenwahnsinnig gewordener Bürokraten. Das
Vertrauen zur Justiz, besonders nach den letzten Reichsgerichtsentscheidungen,
nach den kümmerlichen Versuchen, Haß gegen politisch Andersdenkende unter dem
Deckmantel von Landesverratsprozessen zum Ausdruck zu bringen, ist rechtens
entschwunden.
Über die politischen
Strafprozesse ist also im Ernst nicht zu reden - ich glaube auch nicht, daß der
etwas flau geführte Kampf der reinlichen und gut gemeinten Zeitschrift <Die
Justiz>, herausgegeben von Mittermaier, Radbruch, Sinzheimer und Kroner,
nützen wird. Deren Programm ist nicht schlecht. Es handelt sich um die
Überschätzung der technischen Jurisprudenz in unsrer Zeit und um die
Unterschätzung der Menschlichkeit in der deutschen Rechtspflege. Das ist recht
zart gesagt und nicht allzu konkret. Und ganz abgesehen davon, daß der eine
Herausgeber der Zeitschrift, Radbruch (SPD
- 1921/22 und 1923 Reichsjustizminister), in der Praxis versagt hat, und
daß ein Mitarbeiter wie Wolfgang Heine (SPD
- 1918/19 preußischer Justizminister) ein ebenso bösartiger wie unfähiger
Politiker ist, so gehts nicht. Der einzige Ernst Fuchs aus Karlsruhe immer
ausgenommen. Ehre seinem Andenken!
Eine deutsche Justizreform
ohne die gesetzliche Aufhebung der heute überhaupt erst vorhandenen
Unabsetzbarkeit der Richter ist undenkbar.
Wie sieht denn der Eintritt
eines idealistischen, jugendlich in die Zukunft stürmenden Referendars in den
Richterstand aus?
Der, der neu eintritt, hat
immer unrecht. Das fängt im Eisenbahncoupé an und hört im Berufsstand auf. Die
technische Unfertigkeit des Neuen, seine Jugend und vor allem die Tatsache, daß
die andern länger da sind als er, setzen ihn zunächst in die schwächere Position.
Er muß sich <einarbeiten>, wobei das: «Wir haben das hier immer so
gemacht» und «Ich gebe Ihnen die Weisung... » dominierende Rollen
spielen. Zunächst also ist er machtlos. Dann wird er vom schleichenden Gift der
Routine imprägniert, und wenn er einmal später in eine leitende selbständige
Stellung kommt, ist es meist zu spät. Und löckt er da gegen den Stachel, so ist
erfahrungsgemäß seines Bleibens in der Gruppe und im Stand nicht mehr
allzulange. Oder aber, er darf bleiben: unter so entwürdigenden, seine Arbeit
so erschwerenden Umständen, daß er den ungleichen Kampf aufgibt und quittiert.
Tatsächlich ist bei den
Richtern die Auslese, die der Stand erbarmungslos vornimmt, gefährlicher und
schlimmer als bei der ihnen gesinnungsverwandten Reichswehr.
Es liegt bei beiden der Fall
einer klaren Kooption vor: die Gruppe wählt sich hinzu, wer sich dem
Gruppengeist anpaßt ‑ immer adäquate, niemals heterogene Elemente. Das
fängt bei der Justizprüfungskommission an, und mit dem feinen Siebe der
Personalreferenten gehts weiter. Das Resultat ist dieser Richterstand.
Der deutsche Richter schaut
durch die Brillengläser seiner Klasse: des mittleren und gehobenen Bürgertums.
Was sich darüber und darunter bewegt, findet kaum Platz im Richterstand und hat
als Opfer und Objekt wenig Aussicht, vor Gericht verstanden zu werden ‑
von Außenseitern sehe ich ab. Und innerhalb dieses mittleren Bürgertums ist es
wiederum der starre, der hölzerne, der eingeengte Typus, jener, der von
Hunderten von Tabu‑Gebräuchen umgeben ist und in Schranken liegt, die er
sich zu seiner Sicherung selbst aufgerichtet hat, genährt von einer
Strafpsychologie, die der alte Villers in seinen <Briefen eines Unbekannten> einmal so formuliert hat: «Jedes
du sollst ‑ heißt: ich kann nicht. Jedes du sollst nicht ‑ heißt:
ich darf nicht.»
Kollektivurteile sind immer
ungerecht, und sie sollen und dürfen ungerecht sein. Denn wir haben das Recht,
bei einer Gesellschaftskritik den niedersten Typus einer Gruppe als deren
Vertreter anzusehen, den, den die Gruppe grade noch duldet, den sie nicht
ausstößt, den sie also im Gruppengeist bejahend umfaßt. Also ist der
bestechliche Richter niemals als Typus des deutschen Richters zu nennen; sollte
jemals ein solcher Fall vorkommen, so darf er dem deutschen Richterstand nicht aufs
Konto geschrieben werden, weil der einen bestechlichen Justizbeamten ohne Gnade
ausschlösse. Übrigens ist zu sagen, daß diese lächerliche Überbetonung einer
Selbstverständlichkeit: nämlich der Unbestechlichkeit, Ablenkung vom
Wesentlichen ist. Keine Kindermißhandlung begangen zu haben, heißt noch nicht
tugendhaft sein.
Es darf vom mittleren Typus
des deutschen Richter gesagt werden, daß ein geistig und intellektuell
gehobener Mensch wenig Aussicht hat, mit ihm während einer Verhandlung Kontakt
zu bekommen. Abgelehnt sein Pathos und seine Versuche, Moral zu predigen;
abgelehnt sein sittliches Empfinden und sein Humor; abgelehnt seine Reaktion
auf Schmerz, Freude, Leid und Autorität; abgelehnt seine Bilder an der Wand,
seine Frau, seine Ferienstunden, abgelehnt die Luft, in der er lebt, das Bier,
das er trinkt, die Kinder, die er erzieht. Abgelehnt sein Geist, abgelehnt
seine Kaste, abgelehnt seine Welt.
Bezeichnend sind die Gehilfen,
die er sich holt. Das nachtwandlerisch sichere Gefühl der Gerichtsbeamten für
Schöffen und Geschworene bevorzugt kleinköpfigen, bramsigen Mittelstand,
Untertanen, die einmal, wie Polgar (österreichischer
Schriftsteller und Theaterkritiker) das genannt hat, den Obertanen spielen
wollen. Jeder umgibt sich nur mit sich selbst, und steht unsereiner vor denen,
so findet er eine fremde Welt.
Warum hat denn niemand den Mut
zu sagen, daß Hunderttausende von Angehörigen der freien Berufe,
Hunderttausende von aufgeklärten Arbeitern mit diesen Richtern überhaupt nichts
mehr zu tun haben, daß sie durch Lichtjahre der Entfernung von ihnen getrennt
sind, und daß natürlich jeder von uns mit irgendeinem erfahrenen Verteidiger,
mit einem fortgeschrittenen Deutschnationalen, mit einem gewandten
Auslandskaufmann bei aller Verschiedenheit der politischen Auffassung rascher
in Verbindung kommt als mit einem Landgerichtsdirektor? Wir sprechen zwei
Sprachen, wir denken zwei Gedankenreihen. Man stelle sich vor, daß die Opfer
der Justiz mit einem solchen Richter etwa eine Nordlandreise zusammen
unternehmen sollten: vom Mondaufgang bis zum Trinkgeld gäbe es eine einzige
Kette von Mißakkorden und Dissonanzen. Sie redeten aneinander vorbei.
Und weil unsereiner im
Richterstand nur so vereinzelt vertreten ist, daß meist schon nach wenigen
Jahren Assimilation eintritt, so daß der Fortschrittsmann Schulz als Referendar
noch angeht, aber schon als Amtsrichter nicht mehr wiederzuerkennen ist: deswegen lehnen wir den Geist dieses
Richtertums ab, weil wir, wenn schon demokratisch gedacht werden soll, das
volle Recht beanspruchen, auch unsererseits dort vertreten zu sein, wo man
<Im Namen des Volkes> zu urteilen vorgibt. Das Volk hat aber mit dieser Rechtsprechung nichts zu tun.
Fühlt sich jedoch diese
Richterkaste diktatorisch, geht man dem Gedankengang eines Juristen nach, der
sich souverän wähnt, weil er seine paar Examina bestanden und die Billigung
seiner Kaste gefunden hat, so wäre dann wenigstens eines zu fordern: Diktatur
der Besten. Die hätten das Recht, im Interesse des Guten eine Majorität zu
tyrannisieren. Wie aber sehen diese Despoten aus?
Man sehe diese Richter an, man
höre diese Menschen sprechen, und man wird finden, daß ganze Literaturen
umsonst geschrieben sind, daß unsre Bäume nicht für sie blühen, unser Gelächter
nicht für sie lacht, unsre Tränen nicht für sie fließen. Wir sind so weit von
ihnen entfernt, wie ein Planet vom andern, wir haben nichts mit ihnen zu tun.
Und wir wollen nichts mit ihnen zu tun haben.
Was unsre Justizreformer, die
sich vielfach aus Anwaltskreisen rekrutieren, vorbringen, ist Übersetzung der
eignen Gedankengänge in die fremde Sprache der Richter, ist taktisch schlauer
Versuch, den Gott durch Opfer milde zu stimmen, ihm leise das Schwert schartig
zu machen, ihn vom Gebrauch des Donnerkeils abzulenken.
Reform von oben gibt es nicht.
Ein selbst fortschrittlich gesinnter Justizminister schwimmt schillernd wie Öl
auf dem Wasser, aber Wasser und Öl vermischen sich nicht. Reform von unten ist
auf friedlichem Wege nicht möglich, denn es hieße, die einfachsten Vorgänge in
einer Gesellschaftsgruppe ignorieren, wollte man an rasche grundlegende
Veränderungen von innen her glauben, die nicht in äußeren Umständen ihre
Voraussetzungen haben. Also ist diese Justiz, von einer Klasse über unterjochte
Klassen ausgeübt, nicht durch gutes Zureden langsam zu verbessern, nicht durch
Flickwerk sachte zu korrigieren.
Der Grundfehler des Verhaltens
der deutschen Richter liegt in der völlig abwegigen Vorstellung von dem, was
sie Strafrecht nennen.
Es gibt kein staatliches Recht
des Strafens. Es gibt nur das Recht der Gesellschaft, sich gegen Menschen, die
ihre Ordnung gefährden, zu sichern. Alles andere ist Sadismus, Klassenkampf,
dummdreiste Anmaßung göttlichen Wesens, tiefste Ungerechtigkeit. Besteht man
die Nervenprobe, einer deutschen Gerichtsverhandlung beizuwohnen: mit dem
überheblichen Ton des Richters, der verächtlichen Behandlung der Verteidiger,
der Primadonnenrolle des Staatsanwalts und der Ungezogenheit der Gerichtsdiener
‑, so ist man versucht, jeder ethischen Reflexion des Richters ein
<Eben nicht!> überzuziehen. Die dort geäußerten sittlichen Maximen stehen
auf dem Niveau eines mittleren Konfirmandenunterrichts und muffen nach Kaserne,
kleiner Beamtenwohnung und Pastorenehe. Da trägt der Bestohlene einen Teil der
Schuld, wenn er es dem Dieb «durch leichtsinniges Herumliegenlassen seiner
Sachen» leicht gemacht hat; da ist der außereheliche Verkehr unsittlich und
belastet jeden Angeklagten; da ist der Mangel deutscher Staatsangehörigkeit ein
strafverschärfender Umstand, wie überhaupt bei der Motivierung von Urteilen die
Zeile jenes Trinkliedes herangezogen werden kann, die da fragt, warum man
trinken solle: «Siebentens: jeder andre Grund»: Psychoanalyse, Sexualforschung
aller Grade, sie können hundertmal hohle Tempelsäulen umgestoßen haben ‑
das gilt nur außerhalb der Gerichtsgebäude.
Man muß hören, wie Staatsanwälte
ums Verrecken nicht Frau Graßmann, sondern immer «die Graßmann» sagen; man muß
hören, wie Richter mit Angeklagten umgehen, um zu ermessen, aus welcher Öffnung
diese trübe Justizquelle fliegt. Man muß sehen, wie etwa Polizeibeamte von den
Richtern noch aufgereizt werden, das Publikum so schlecht wie möglich zu
behandeln; man muß hören, wie <Widerstand> nicht nur als Delikt, sondern
als Sakrileg geahndet wird. Man muß die feine oder blöde Beeinflussung der Zeugen
durch suggestive Fragen hören: wie die Antwort in die Zeugen hineingepreßt
wird, wie unbequeme Zeugen vom Staatsanwalt in ungehöriger Form angefahren
werden, wie der Richter mit ihnen umspringt, wie keiner das oberste Gesetz
einer Vernehmung kennt: den Mund zu halten und zuzuhören. Sie haben ja auch
wenig wahre Opposition. Gewohnt, mit gerissnen Verteidigern zu tun zu haben,
die die ehernen Gesetze der Taktik befolgen: bei vollendetem Mord den Getöteten
als ein Scheusal hinzustellen, bei versuchtem Mord von dem noch lebenden Opfer
nett zu sprechen; gewohnt, immer nur mit Menschen zu diskutieren, die unter
grundsätzlicher Anerkennung der richterlichen Macht sie nur umgehen wollen,
denken diese Richter über die Basis dessen, was sie tun, überhaupt nicht mehr
nach. Kleine Funktionäre biegen das Leben nach den Begriffen des Strafgesetzes
zurecht, und man fragt sich selbst in Berlin oft, wo diese Menschen eigentlich
ihre Freizeit zubringen und ob sie denn gar nicht wissen, wie es draußen in der
Welt richtig zugeht und was des Landes der Brauch ist. Ein Blick auf die Uhr,
halb eins! fertig werden, fertig werden.
Man nehme doch den Wahnwitz
hinzu, der da die Richter glauben läßt, ein Freispruch sei nicht nur eine
Niederlage des Staatsanwalts. Derselbe Richter, der hundertmal an den
schematisch gefaßten <Eröffnungsbeschlüssen> mitgewirkt hat, glaubt beim
Anblick seines Angeklagten ernsthaft, <irgend etwas müsse schon an der Sache
dran sein, denn sonst stände der Kerl ja nicht hier!> Über die anfechtbaren
Vernehmungsmethoden von Polizei, Staatsanwaltschaft und Untersuchungsrichtern
während des Vorverfahrens, von dem stillen, zähen und kleinlichen Feldzug, der
da gegen Angeschuldigte und Angeklagte im Halbdunkel geführt wird, weiß er
nichts; nichts von der Wehrlosigkeit, in der Ungeübte im Frühstadium solcher
<Rechtsvorgänge> zappeln; nichts vom bösartigen Ausschluß der
Verteidiger, denen man die Akteneinsicht so schwer wie möglich macht ... davon
ist unserm Richter nichts bekannt. Auch nichts von der Wirkung der Strafen, die
er verhängt: ich bestreite, daß es mehr als dreißig Strafrichter in Berlin
gibt, die überhaupt begreifen, welch Unterschied zwischen den drei und vier
Jahren Zuchthaus ist, die sie täglich verhängen. Was wissen denn die Talare vom
Strafvollzug ‑? Das, was im Examen darüber gefragt wird. Gar nichts.
Der deutsche Richter hat sich
aus der Seele seiner Kaste und der Lebensanschauung seiner Gruppe einen Ideal‑Angeklagten
konstruiert: den artigen. Dieses Fibelvorbild, das da vorgestellt wird,
beherrscht den gesamten deutschen Strafprozeß, bis herauf zum Reichsgericht.
«Der gute Sohn, der seine Mutter unterstützt»; «der verheiratete Mann, der mit
einer Frauensperson eine Reise nach London unternimmt» ‑ diese verlognen
Lebensbilder, die da aufgerollt werden, stehen durchaus auf dem Niveau ihrer Hersteller.
Kleine Leute, kleine Leute. Die tiefste Sexualmoral: die des Neides; die
platteste Beurteilung von Motiven das regiert. Richterliche Sittenzeugnisse
sehen meist aus wie Dienstzeugnisse für einen Kuhknecht, dessen Treue,
Arbeitsamkeit und Bescheidenheit von einer Gutsherrschaft gerühmt werden, die
diese nützlichen Eigenschaften sehr von oben herab, wohlwollend und streng
feststellt. Die Tatsache, daß ein des Mordes Verdächtigter nachts liest, am
Tage schläft und zwei Frauen zu gleicher Zeit liebt, dürfte den Mann ziemlich
erledigen. Dergleichen wiegt schwerer als alle Indizien, die ihm vorgehalten
werden. Er hat sich ‑ und das scheint mir das Allerschlimmste ‑ gegen
diese Anwürfe auch noch zu verteidigen. Es sind Straftaten, die ihm so vorgeworfen werden; von der Seite des
Verteidigers fällt kein Wort und darf aus taktischen Gründen keines fallen, das
grundsätzlich die Berechtigung des Richters zu solchen Moralausflügen
bestreitet und grade die sittliche Ebene, auf der das Tribunal hockt, zerschlägt.
Artig soll der Angeklagte sein, ein Untertan, ein Fibelkind, in den Augen jenen
hündischen Ausdruck, mit dem deutsche Soldaten vor ihren Schindern stramm
stehen mußten. Hände an die Hosennaht! Stehlen darfst du.
Etwas ganz und gar
Grausliches, wenn die <akademische Bildung> einem falsch deutsch
sprechenden, einem unbeholfen nach Worten suchenden Angeklagten
gegenübergestellt wird ‑ wenn teutonisch geredet wird, in albernen und
billigen Phrasen, mild stiefväterlich, stets die Burschenschaft oder den Stammtisch
als imaginären Zuhörer ... das geht bis zum geschmacklosen Hohn, bis zu
kindischen Feststellungen, die nicht zur Sache gehören und für die so ein Richter aus dem Amt gejagt werden müßte. Und aus
alledem spricht immer, immer: «Wozu halte ich mich eigentlich solange mit ihnen
auf? Mein Urteil ist längst fertig.» Worauf zu antworten: Also warum denn noch
die Verhandlung? Warum nicht eine Postkarte mit dem Urteil frei ins Haus
gestellt? Und eine Gegenfrage: Warum wirst du überhaupt Richter, wenn es dich langweilt,
zuzuhören; wenn es dich reizt, daß sich Leute verteidigen; wenn es dich ekelt,
dich mit ihnen abzugeben ‑?
Fassungslos das Staunen, daß
es Diebe und Mörder gibt ‑ wie falsch klingt der Schall über dem Kopf
zusammengeschlagener Hände, welche Verworfenheit! wie konnten Sie! ... als sei
es das erste Mal, daß in einer Großstadt eingebrochen, gestohlen, vergewaltigt,
betrogen wird. Immer wieder fällt ein gewisser Richtertypus aus allen Himmeln
der Wohlanständigkeit. Auszubaden hat das Erstaunen der Angeklagte.
Ein deutliches Symptom der
Klassenauswahl und des Gruppengeistes ist die Stellung des deutschen Richters
zu jeder Autorität. Man betrachte sich tausend Strafprozesse: man kann darauf
schwören, daß sich der deutsche Richter in allen, in ausnahmslos allen Fällen
der Autorität annimmt und nicht nur der staatlichen; daß er dem, der auch nur
irgendeine vermeintliche oder wirkliche Autorität ausübt, volles Recht gibt.
Noch die schlimmsten Mißbräuche und Ausschreitungen wird er entschuldigen, wenn
es sich nur um einen <Vorgesetzten> handelt. Ein Gutsknecht zerschlägt
seinen Peitschenstock auf dem Rücken des Hütejungen: da kann ein deutscher
Richter nichts machen oder doch nur wenig: denn wohin kämen wir, wenn der
<Oberaufseher> dem <Unteraufseher> nicht beibrächte, daß es in
Deutschland eine soziale Stufenleiter gibt? Man sehe sich daraufhin die
Strafprozesse an, und man wird finden, daß in fast allen Fällen der <Vorgesetzte>
recht bekommt.
Daher auch die schmählich
milden Urteile in den Kindesmißhandlungsprozessen. «Die väterliche Autorität
... », eben weil diese sehr diskutable Autorität mißbraucht worden ist, sollte
ein unmenschliches Ehepaar, eine Megäre von prügelnder Mutter für so viele
Jahre im Zuchthaus sitzen, wie das geschlagne Kind Tränen geweint hat. Je
engstirniger, je kleiner, je schmalhorizontiger der Standpunkt eines Menschen
um so unnachgiebiger wird er vertreten. Und was so maßlos in diesen kleinen
Prozessen reizt, wo sich die Richterschaft überhaupt nicht kontrolliert fühlt,
ist die Überheblichkeit des Tones. «Sie hätten ‑», «Sie sind ein ganz ...
» Aber der Richter irrt sich. Er ist gar nicht berufen, sittliche Urteile
abzugeben, zu denen er unter den heutigen Verhältnissen weder qualifiziert noch
legitimiert ist. Niemand hat ihn nach seiner unmaßgeblichen Meinung gefragt.
Nun ist nicht einmal Berlin
für die Beurteilung des deutschen Richterstandes sehr maßgeblich. In einer
großen Stadt sind, bei aller Grauenhaftigkeit, die Umgangsformen der Richter,
Milieu und Luft doch ein klein wenig menschlicher; das Verfahren ist mitunter
wenigstens einigermaßen liberal, wenn nicht in der Sache, so doch in der Form.
Auch sind die Erfahrungen, die Publizisten und Politiker vor Gericht gemacht
haben, nicht sehr wesentlich, weil da die Möglichkeit der öffentlichen
Beschwerde besteht, so daß ein ausgesprochen ungehöriges Verhalten der Richter
in solchen Fällen ‑ unter dem Kaisertum ‑ Ausnahmefälle waren. Seit
1918, in dieser Republik, bei dieser politischen Opposition, genieren sich die
Herren weniger.
Die verfehlte Prozeßführung
des deutschen Richters ist aus seiner Gruppenauslese herzuleiten, und es kann
niemals besser werden, wenn Vorbildung und soziologische Auswahl nicht von
Grund auf geändert werden. Angemerkt mag sein, daß der heutige Typus noch Gold
ist gegen jenen, der im Jahre 1940 Richter sein wird. Dieses verhetzte Kleinbürgertum,
das heute auf den Universitäten randaliert, ist gefühlskälter und
erbarmungsloser als selbst die vertrockneten alten Herren, die wir zu bekämpfen
haben. Während in der alten Generation noch sehr oft ein Schuß Liberalismus,
ein Schuß Bordeaux‑Gemütlichkeit anzutreffen ist, ein gewisser Humor, der
doch wenigstens manchmal mit sich reden läßt, lassen die kalten, glasierten
Fischaugen der Freikorpsstudenten aus den Nachkriegstagen erfreuliche Aspekte
aufsteigen: wenn diese jungen einmal ihre Talare anziehen, werden unsre Kinder
etwas erleben. Ihr Mangel an
Rechtsgefühl ist vollkommen.
Ich fasse zusammen:
Die Kaste, aus der sich der deutsche Richterstand rekrutiert, repräsentiert
nicht dasjenige Deutschtum, das etwa von Goethe über Beethoven bis Hauptmann
jene Elemente enthält, um derentwillen wir das Land lieben, um derentwillen wir
gern deutsch sprechen, um derentwillen wir der geistigen Einheit Deutschland
angehören. Der Richterstand, so wie er da ist, repräsentiert nur einen
klassenmäßigen Ausschnitt aus dem Lande; er ist das Resultat einer Auswahl von
Menschen, die nicht berechtigt sind, im Namen des Volkes Recht zu sprechen: sie
sollten es in ihrem eignen tun. Satz für Satz, Begründung für Begründung, Idee
für Idee sind ihre in den Urteilen niedergelegten Anschauungen bekämpfenswert,
widerlegbar, zu verwerfen. ihr subjektiv guter Glaube ist in vielen Fällen zuzugeben:
die Wirkung ihrer Tätigkeit ist unheilvoll.
Gibt es keine Gegenwehr? Es
gibt nur eine große, wirksame, ernste: den antidemokratischen, hohnlachenden,
für die Idee der Gerechtigkeit bewußt ungerechten Klassenkampf.
Daneben gibt es einige kleine
Mittel, Vorschläge, Pillen und Mixturen für jene unheilbare Krankheit.
An kleinern Mitteln seien
genannt:
Schutz durch öffentliche
Kontrolle. Diese öffentliche Kontrolle ist zur Zeit dünn. Zunächst setzt die
vom Vorsitzenden ausgeübte <Sitzungspolizei>, die keine Ausschreitung der
Gerichtsdiener, wohl aber das leiseste Wackeln eines Zuschauerkopfes bemerkt,
jeden Richter in die Lage, sich unbequeme Publizisten vom Halse zu halten.
Beschwerden dagegen werden vom Kollegen, also unsachlich erledigt.
Immerhin wäre die
Beaufsichtigung der Gerichtsverhandlungen durch die Presse recht förderlich,
besonders in den kleinern Städten. Es ist eine von den Zeitungen aller
Schattierungen fast durchgängig vernachlässigte Pflicht, diese Kontrolle durch
eigne gesinnungstüchtige und kenntnisreiche Leute ausführen zu lassen ‑
dazu gehören freilich Männer von Menschenkenntnis, juristischer Vorbildung und
mit einer Feder versehen, die ein lesbares Deutsch zu schreiben versteht. So
aber benutzen fast alle diese Blätter bis herauf zu den größten Tageszeitungen
irgend eine Korrespondenz, die, sachlich nicht immer einwandfrei, eine fade und
verlogene politische Neutralität aufweist, und die so keine Möglichkeit der
Kritik des öffentlichen richterlichen Verhaltens bietet. Auch hat ein gut Teil
der Korrespondenzangestellten das Geschäftsinteresse, es mit den Richtern nicht
zu verderben.
Ferner ist als mindeste
Abschlagszahlung bei der Reformierung unsres minderwertigen Strafprozeßrechtes
die Öffentlichkeit des Verfahrens zu fordern. Der hilflose
Untersuchungsgefangene ist der schlimmsten Willkür ehrgeiziger
Kriminalkommissare und Untersuchungsrichter ausgeliefert, die oft Haft
verhängen oder aufheben, ohne daß mehr als Vorwände dazu vorhanden sind und die
alle von dem fressenden Ehrgeiz passionierter Jäger befallen sind, nicht: die
Wahrheit zu suchen, sondern: ein Wild zu jagen. Es erscheint ihnen als eine
persönliche Kränkung, wenn der Angeschuldigte unschuldig aus der Sache herauskommt
oder wenn er, was sein gutes und bestes Recht ist, lügt, daß sich die Balken
biegen. Es ist immer wieder merkwürdig, zu sehen, wie kleine Angestellte großer
Organisationen den Gruppenstolz hochhalten, wie sie bei kümmerlichem Gehalt
wenigstens für die Ehre ihres Ladens eintreten, und so wird auch das leiseste
Symptom von Aufsässigkeit zum Schaden des Angeschuldigten auf das Konto der
Sache böse verrechnet. Was in Vorverhandlungen gesündigt wird, weiß der Jurist
am besten, er will es aber nicht wissen.
Denn hier im Vorverfahren
zeigt sich so recht die Unsicherheit in Rechtssachen, in der man den deutschen
Untertan bewußt leben läßt. Fragen Sie unter ihren Bekannten, ob einer
polizeilichen Aufforderung, auf das Revier zu kommen, Folge zu leisten ist und
wann: Niemand wird Ihnen über diesen Alltagsfall Bescheid geben können, und
niemand weiß, daß, von geringen Ausnahmen abgesehen, die Polizei zu solcher
Vorladung im vorbereitenden Verfahren nicht berechtigt ist, und daß ihr
gegenüber keine Aussagepflicht besteht. Fragen Sie, ob es eine solche
Aussagepflicht von Angeschuldigten im Vorverfahren gibt oder nicht: neunzig von
hundert Deutschen werden sich durch einen kleinen Amtsrichter einschüchtern lassen,
wenn dieser mit ihnen ein Protokoll aufnehmen will, und keiner wird ahnen,
welche Schlingen und Fallen in der Formulierung eines Protokolls stecken können.
Davon weiß der Schulunterricht nichts, davon wissen die Fortbildungsschulen
nichts. Die kümmerlichen Rechte der Deutschen, die ihnen die sogenannte
<Verfassung> garantiert, sind so gut wie unbekannt, und die wenigen
Kautelen (Vorsichtsmaßregeln), die
die Strafprozeßordnung dem Angeklagten reserviert, sind es erst recht. Die
deutsche Strafprozeßordnung liest sich im großen ganzen wie die
Lieferungsverträge, die sich bei uns eingebürgert haben: was auch immer
geschieht, geht zu Lasten des Bestellers, und die ausführende Firma haftet für
gar nichts. Genau so ergeht es dem Angeklagten: er wird vom Augenblick der
ersten Vernehmung an wie eine Schachbrettfigur im Verfahren hin‑ und
hergeschoben und hat darin nicht viel zu vermelden. Weil aber die regierende
Kaste die regierte Schicht gern in Unkenntnis darüber läßt, wie die
Ausweismarken von Kriminalbeamten und wie die staatsbürgerlichen Rechte von
Steuerzahlern aussehen, um so einer Ausbeuterorganisation den Nebel nationaler
Metaphysik zu lassen, deshalb weiß noch nicht der hundertste Deutsche, wie er
im Strafverfahren um sein bißchen Recht gebracht wird. Hier tut Aufklärung not.
Da diese Aufklärung freiwillig
nicht gewährt werden wird, so ist es Sache der proletarischen Organisationen,
vom Klüngel abgesprengte und gesinnungstüchtige Juristen ihren Zwecken
dienstbar zu machen und den Arbeitern wenigstens den allernötigsten
Rechtsschutz zu gewähren, damit sie nicht ganz ungestählt in den Kampf mit dem
bürgerlichen Richter eintreten.
Es täte, beiseite sei es
angemerkt, auch gut, wenn fortschrittliche Organisationen ihre Anhänger öfter
in die Gerichtsgebäude schickten. Die meisten Leute besuchen keine
Strafprozesse, machen sich von der Luft, die da herrscht, keine Vorstellung,
und weil es ihnen an juristischer Vorbildung mangelt, sprechen sie bei
Diskussionen ins Blaue, ohne den Gegner zu treffen.
Im Kampf gegen die Diktaturjustiz ist ferner wichtig, ihr den kleinen
Rest von Vertrauen, den sie hier und da noch genießt, zu nehmen.
Noch immer wird dem Spruch
eines Gerichtes, besonders in politischen Strafprozessen, zu großer Wert
beigemessen. Diese Aktie ist mitunter über ihrem wahren Wert notiert. Hat ein
deutsches Gericht in politischen Strafsachen seinen Spruch abgegeben, so ist es
unsre Pflicht, alle tatsächlichen Feststellungen, die dort getroffen worden
sind, zu ignorieren. Es ist grundfalsch, irgendwelche Folgerungen an diese
Verwaltungsmaßnahmen zu knüpfen. Diese Urteilssprüche zählen nicht.
Ganz besonders gilt das, wenn
es sich um Diffamierung oder Freispruch von Angehörigen der herrschenden Klasse
handelt. Es ist bedauerlich, daß die SPD und große sogenannte republikanische
Verbände nicht den Mut aufbringen, sich den völlig gleichgültigen Anschauungen
von Ehre und Patriotenpflicht, die diese Richter proklamieren, zu entziehen.
Was diese Richter Landesverrat nennen, berührt uns nicht. Was sie als
Hochverrat ansehen, ist für uns keine unehrenhafte Handlung. Was sie als
Meineid, Aktenbeschädigung oder Landfriedensbruch deklarieren, läßt uns völlig
kalt. Man sollte die Opfer solcher Rechtssprüche in der Arbeiterbewegung
besonders auszeichnen, schon um zu zeigen, daß jene in den Talaren nur
physische Gewalt auszuüben vermögen, und auch die nur heute. Als
selbstverständliche Voraussetzung, die von den mich zitierenden nationalen Zeitungen
fortgelassen werden wird, ist die persönliche Sauberkeit der politischen
Kämpfer zu fordern. Und sie sind sauber, wenn sie diese Straftaten lediglich im
Interesse des Klassenkampfes begangen haben.
Die moralische Wertung, die
der deutsche Richter auch in scheinbar unpolitischen Strafprozessen seinen
Opfern angedeihen läßt, ist politisch. Was er schädlich nennt, kann schädlich
sein. Gewöhnlich ist es gut. Was er für strafverschärfend hält, ist für uns
gleichgültig, meistens ist es strafmildernd. Das moralische Recht, der
moralische Fortschritt, die sittliche Erziehung des Volkes werden nicht auf
deutschen Universitäten gelehrt, nicht von deutschen Gerichten stabilisiert.
Die kalte Härte des Reichsgerichts in allen Sittenfragen, seine völlige Verständnislosigkeit
den Forderungen des Lebens gegenüber, seine scheinbare Objektivität, die
niemals eine gewesen ist, gibt uns das Recht, dieser Richterkaste jede
Qualifikation zur moralischen Erziehung des Volkes abzusprechen. Es ist ja
nicht wahr, daß die Reichsgerichtsräte lediglich dem kodifizierten Recht zur
Wirkung verhelfen, die Voraussetzungen oben in den Justizapparat werfen und
unten auf das Resultat warten: denn es gibt kein Strafverfahren, wo nicht an
einem bestimmten Punkt das Gefühl mitspricht, die Erziehung, die
Klassengesinnung; und weil in diesem kritischen Augenblick besonders der
Reichsgerichtsrat die Nadel nach rechts pendeln läßt, woran er subjektiv
unschuldig sein mag, woran aber die Kaste, die ihn hochgepäppelt und eingesetzt
hat, schuldig zu sprechen ist ‑: deshalb lehnen wir die geistige
Legitimation dieser Richter zur Erteilung irgendwelchen Rechtes ab und pfeifen
auf ihre Richtersprüche.
Es hat immer eine Minorität von anständigen Juristen gegeben, die gegen
die Untaten ihrer Kollegen, gegen die offenkundigen Mängel des Systems, gegen
ein größenwahnsinnig gewordenes Strafrecht gekämpft haben. Aber
mit welchen braven Mitteln! Ich glaube nicht an eine Evolution im Strafrecht.
Administrative Evolution ist ein Schlagwort für Ängstliche. Seine
Erfolglosigkeit ist durch die Zahl eines Jahres bewiesen, in dem man nicht
gewagt hat, diese Beamten und diese Richter auf die Straße zu setzen, <weil
sie doch die Bestimmungen so schön kannten>: 1918.
Es gibt, um eine Bürokratie zu
säubern, nur eines. Jenes eine Wort, das ich nicht hierhersetzen möchte, weil
es für die Herrschenden seinen Schauer verloren hat. Dieses Wort bedeutet:
Umwälzung, Generalreinigung, Aufräumung. Lüftung.
Erwachsene lernen nicht mehr
zu. Zu warten, bis sich die historische Strafrechtsschule, die Universitäten,
Hergt und Ebermayer dazu bequemt haben, von der Dreistigkeit zu <strafen>
abzustehen und nur die Gesellschaft und nicht nur ihre Klasse zu schützen ‑:
das dürfte teuer erkauft sein. Erkauft mit der Qual Zehntausender, die
gepeinigt werden, noch unter dem Niveau ihrer Taten, gequält und wehrlos einem
schlecht bezahlten oder gar aus höhern Militärkreisen gewählten Gefängnispersonal
ausgeliefert. Diese Strafen sind keine Sühne. Das hat kaum einer verdient, was
diese Gefangenen heute an moralischer Qual durchmachen müssen. Diese Strafen
sind auch keine Abschreckung; das beweist die Praxis. Sie sind keine
Besserungsversuche; darüber kann nur ein Pfarrer schwätzen, der nie ein
Gefängnis gesehen hat. Sie sind Qual auf der einen Seite ‑ Sadismus, Herrschsucht,
Faulheit und Lässigkeit auf der anderen.
Und gegen diese Vereinigung
von Menschen, die sich eine Macht anmaßen, die ihnen niemand gegeben hat, gegen
diesen Haufen dickköpfiger Burschen, deren Qualifikation einzig darin besteht,
daß sie sie zu haben glauben, und deren Gruppenzugehörigkeit man nicht gegen
ihren Willen erwerben kann ‑ gegen diese Zahl von Männern, die einen
Selbstzweck und eine unsittliche Wirtschaftsform verteidigen, gegen sie gibt es
nur eine Waffe, nur ein Mittel, nur ein Ziel.
Die Schande dieser Justiz, die
Schande solchen Strafvollzuges ‑: nieder mit ihnen. Und das Gesetzbuch um
die Ohren aller, die sich mit Erwägungen, mit Bedenken und mit
wissenschaftlichen Hemmungen dem wichtigsten Ziel entgegenstellen, das einen
anständigen Menschen anfeuern kann:
Recht den Rechtlosen.
Quelle: Kurt Tucholsky im Jahre 1927
Anmerkung: Es ist doch erstaunlich - und ein Grund mehr, an der
Läuterungsfähigkeit der Menschheit zu zweifeln - wie wenig sich an den von
Tucholsky kritisierten Zuständen richterlicher Ignoranz in den letzten 80
Jahren geändert hat, wobei die - von Tucholsky vorhergesehenen - gesteigerten
Justizgrausamkeiten während der Naziherrschaft auch nichts Grundlegendes weder
an der Betonkopfmentalität der deutschen Richter und Staatsanwälte noch an der
Gestaltung durch Parlament und Verwaltung bewegen konnten. Im Gegenteil: Beim
BGH waren 75 % und in Schleswig-Holstein 90 % der BRD-Staatsjuristen Nazis, die
lediglich ihr NSDAP-Parteibuch mit dem der CDU oder SPD oder mit der
Mitgliedschaft bei Rotary oder LIONS eingetauscht haben.