Zachor
Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor: Erinnere Dich! -
Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis; (Verlag Klaus Wagenbach,
Berlin 1996, 140 Seiten, DM 17,80)
Dieses
Buch stellt eine hervorragende und m. E. notwendige Ergänzung zu Israel Shahaks
Buch Jewish History, Jewish Religion - The Weight of Three Thousand Years
(Pluto Press, London), deutsch: Jüdische Geschichte, jüdische Religion – Der
Einfluß von 3000 Jahren (Lühe, Süderbrarup 1998) dar. Es genügt ja nicht,
festzustellen, daß im Judentum vieles, wenn nicht alles, ganz anders ist als
bei uns; dieses Anderssein ist in einer andersartigen Mentalität begründet, die
ganz wesentlich mit einem anderen Zeitverständnis, mit einem anderen Sein in
der Zeit zutun hat. Für uns, die wir uns vornehmlich mit der sogenannten
Zeitgeschichte beschäftigen, kann es nur nützlich sein, zu wissen, wie die
gleichen Dinge von der anderen Seite gesehen werden, zumal diese andere
Sichtweise staatlichen Schutz genießt und in Form einer
"Gedenkstättenkultur" zunehmend in Beton gegossenen Ausdruck findet.
Anstelle einer Besprechung möge eine Reihe von Zitaten genügen, jüdisches Zeit-
und Geschichtsverständnis darzustellen. Da wir gelernt haben, daß wir nicht
verallgemeinern sollen, muß offen bleiben, ob nun alle Juden damit
charakterisiert sind.
„Es ist
nun einmal so, daß unsere Art, Zeit und Geschichte zu erleben, einmalig und
noch nie dagewesen ist.“ (S. 13) -
Kapitel „Biblische und rabbinische Grundlagen“: „War Herodot der Vater der
Geschichtsschreibung, so waren die Juden die Väter des Sinns in der Geschichte.
- Im alten Israel maß man der Geschichte zum erstenmal eine entscheidende
Bedeutung bei; dadurch entstand eine neue Weltanschauung, deren entscheidende
Prämissen später vom Christentum und dann auch vom Islam übernommen wurden.“
(S. 20) – „Wir haben gesehen, daß der Sinn von Geschichte und die Erinnerung
an die Vergangenheit keineswegs mit der Geschichtsschreibung gleichzusetzen
sind. . . .“ (S. 27) – „ . . . ist auch schon in der Bibel die Geschichtsschreibung
nur ein
Ausdruck für das Bewußtsein vom Sinn der Geschichte und von der Notwendigkeit
der Erinnerung. Weder die Sinnhaftigkeit
noch das Gedächtnis sind letzten Endes auf Geschichtsschreibung angewiesen. Der
Sinn der Geschichte wird bei den Propheten unmittelbarer und tiefer erkundet
als in den eigentlichen historischen Berichten.“ (S. 27/28). – „Im
Gegensatz zu den Verfassern der Bibel scheinen die Rabbiner mit der Zeit zu
spielen, als wäre sie ein Akkordeon, das sich nach Belieben auseinander- und
zusammenziehen läßt.“ (S. 30) – „Es liegt dabei natürlich auf der
Hand, daß die Ansichten und die Hermeneutik der Rabbiner oft in krassem
Gegensatz zu denen des Historikers stehen.“ (S. 33) - Kapitel „Das
Mittelalter": „Wenn die
Juden in der Synagoge den Untergang des Tempels beklagten, kannten zwar alle
den Tag und den Monat, doch man darf annehmen, daß die meisten keine Ahnung
hatten, in welchem Jahr und unter welchen taktisch-militärischen Umständen der
Erste oder der Zweite Tempel zerstört worden war, und - daß es ihnen auch
gleichgültig war.“ (S. 55) – „Am verblüffendsten ist die ständige
Verwendung der ersten Person Singular (,als ich aus Ägypten zog’; ,als ich aus
Jerusalem zog’) statt ,sie’ oder auch dem kollektiven ,wir’. . . . Die bewußte
Verwendung des ,ich’ bedeutet mehr und verweist auf ein umfassenderes Phänomen.
Durch Rituale und Liturgien des Gedenkens ausgelöste Erinnerungen zielten
nämlich - unabhängig vom Inhalt - nicht auf Rationales, sondern auf Evokation
und Identifikation. Es läßt sich zeigen, daß dabei nicht plötzlich Tatsachen
aus der Vergangenheit hervorgerufen
wurden, über die man distanzierte Betrachtungen anstellen, sondern Situationen,
in die man irgendwie existentiell hineingezogen werden konnte. Am deutlichsten
läßt sich das an Hand des Pessach-Seder erkennen, dem beispielhaften Ritual zur
Aktivierung des jüdischen Gruppengedächtnisses. Da werden bei einem Mahl im
Familienkreis Ritual, Liturgie und sogar Kochkunst so orchestriert, daß die zur
Lebensgrundlage gehörende Vergangenheit von einer Generation zur nächsten
weitergegeben wird. . . . Das Gedenken bedeutet hier nicht mehr Rückbesinnung,
bei der ein Gefühl der Distanz ja stets erhalten bleibt, sondern erneute
Aktualisierung. . . . Nirgends aber wird die Vorstellung eindringlicher
formuliert als in dem Talmudspruch, der für die ganze Pessach-Hagada
entscheidend ist: ,In jeder einzelnen Generation ist ein Mensch verpflichtet,
sich selbst so zu betrachten, als ob er aus Ägypten gezogen sei.’“ (S.
56/57) - Kapitel „Nach der Vertreibung aus Spanien“: „Es war
gewiß kein Zufall, daß ein Volk, welches immer noch nicht auf den Gedanken kam,
sein Selbstverständnis in profanen historischen Kategorien zu suchen, jetzt den
Schlüssel zur eigenen Geschichte in einem gewaltigen metahistorischen Mythos
höchst gnostischer Prägung finden sollte. Dieser Mythos besagte, daß alles
Böse, also auch das historische Böse der jüdischen Verbannung, seine Wurzeln
vor dem Anfang der Geschichte, vor dem Anlegen des Gartens Eden, vor der
Existenz unserer Welt, in einem tragischen Urmakel hatte, der schon bei der
Schöpfung des Kosmos an sich entstand.“ (S. 83) – „Die Masse der Juden
war eindeutig nicht willens, Geschichte ohne Transzendenz gelten zu lassen.“
(S. 84) - Aus dem Kapitel „Das Unbehagen in der modernen
Geschichtsschreibung“ [!!!] (S. 85): „. . . fällt dann der Geschichte
eine völlig neue Rolle zu - sie wird zum Glauben ungläubiger Juden. Erstmals
wird in Fragen des Judentums statt eines heiligen Textes die Geschichte zur
Berufungsinstanz. So gut wie alle jüdischen Ideologien des 19. Jahrhunderts,
von der Reformbewegung bis zum Zionismus, beriefen sich zur Legitimierung auf
die Geschichte. Wie nicht anders zu erwarten, lieferte ,die Geschichte’ den
Appellanten jeden erwünschten Schluß.“ (S. 92) – „Nichts konnte bisher
an die Stelle des Sinnenzusammenhangs treten, den ein mächtiger Messiasglaube
einst der jüdischen Vergangenheit und Zukunft verlieh - vielleicht gibt es
überhaupt keinen Ersatz.“ (S. 102) – „Juden, die noch vom Zauber der
Tradition gebannt sind oder dorthin zurückgefunden haben, finden die Arbeit des
Historikers irrelevant. Ihnen geht es nicht um die Historizität des
Vergangenen, sondern um seine ewige Gegenwart. Wenn der Text unmittelbar zu
ihnen spricht, muß ihnen die Frage nach seiner Entwicklung zweitrangig oder
völlig bedeutungslos vorkommen.“ (S. 103) – „Viele Juden suchen heute
nach einer Vergangenheit, aber diejenige, die der Historiker zu bieten hat,
wollen sie ganz offensichtlich nicht. Das gewaltige augenblickliche Interesse
am Chassidismus kümmert sich nicht im geringsten um die theoretischen
Grundlagen und die reichlich anrüchige Geschichte dieser Bewegung. Der
Holocaust hat bereits mehr historische Forschungstätigkeit ausgelöst als jedes
andere Ereignis der jüdischen Geschichte, doch für mich steht völlig außer
Zweifel, daß sein Bild nicht am Amboß des Historikers, sondern im Schmelztiegel
des Romanciers geformt wird [!!!]. Seit dem 16. Jahrhundert hat sich
viel geändert, doch eines ist seltsamerweise gleich geblieben: Es sieht so aus,
als seien die Juden damals wie heute nicht bereit, sich der Geschichte direkt
zu stellen (wenn sie sie schon nicht überhaupt ablehnen).“ (S. 104). Soweit
also aus dem Buch Zachor.
Robert B. Goldmann, Schriftsteller und
ADL-Agent aus New York bekannte ganz richtig: „Es ist charakteristisch für
die Grundeinstellung amerikanischer Juden, daß Tatsachen, die ihrer Gefühlswelt
widersprechen, wenn überhaupt, wenig Eindruck machen.“ (FAZ vom 19.
Dezember 1997, S. 9). Daß diese Haltung nicht auf amerikanische Juden
beschränkt ist, bestätigt uns Henryk M. Broder: „Die Israelis sind einfach
überwiegend autistisch, sowohl einzeln wie als Kollektiv. Sie nehmen ihre
Umwelt nur beschränkt wahr; daß es außerhalb des eigenen Erlebnisraumes noch
andere Räume gibt, in denen ebenfalls Menschen leben, übersteigt oft ihre
Vorstellungskraft. Es gibt nur einen Maßstab: die eigene Erfahrung. . . . Diese
Haltung, die das individuelle Verhalten bestimmt, führt auch in der Politik zu
Verzerrungen der Wahrnehmung.“ (S. 13) – „. . . es ist Autismus als
Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ (S. 14). (Die Irren von
Zion, 3. Aufl., Hoffman und Campe, Hamburg 1998).