Vermintes Gebiet
Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn widmet
ein neues Werk der "jüdischen Frage
(...) Sein gewichtiges Opus
zeichnet ein zwar schattiertes, aber durchweg in dunklen Tönen gehaltenes Bild
der Juden in Russland. In epischer Breite schildert
er, wie jüdische Schankwirte zu Zarenzeiten sich am
Elend trinkender Bauern bereicherten. Großen Raum nehmen auch die gescheiterten
Versuche ein, Juden zu körperlicher Arbeit als Landwirte zu motivieren.
Das gesamte Buch durchweht der Geist von Dostojewskis
umstrittenem Aufsatz zur Judenfrage von 1877, den Solschenizyn
freilich nicht erwähnt. Mit seinem Dichterkollegen teilt er, gleichfalls am
Lebensabend, die Kritik an der vermeintlich mangelnden Bereitschaft der Juden
zur Assimilation. In einem Interview mit Loschak
hingegen rühmt er die Weigerung, sich anzupassen, als eine "wunderbare
Eigenschaft" der Juden.
Solschenizyn
beschreibt die russischen Juden als "Frontabteilung, geschaffen vom
Weltkapital". Bei der "Zerstörung der bürgerlichen Ordnung" in
der russischen Revolution, so der Autor, hätten Juden "in vorderster Front
gedient". Zwar betont er mit einem Zitat des Satirikers Michail Saltykow-Schtschedrin,
von einzelnen "Wucherern" und "Ausbeutern" dürfe man nicht
auf ein ganzes Volk schließen ‑ und behauptet dennoch, die Juden hätten
in Russland "als revolutionärer Brandsatz"
gewirkt.
Der liberale Zar Alexander II.
(1855 bis 1881), so seine These, habe durch rechtliche Reformen "die
jüdische Frage lösen" wollen, indem er ihnen Zugang zu den Universitäten
bot. Doch Verständnis bringt Solschenizyn auch dem
(bis 1894) nachfolgenden Reaktionär Alexander III. entgegen, der für Juden
einen Numerus clausus
verordnete ‑ das sei eine "antirevolutionäre
Maßnahme" gewesen, erlassen wegen des Hangs junger Juden zum Sozialismus.
Der Dichter wagt sich weit auf
verminte Gebiete der Geschichtsschreibung. (...)
Quelle: DER SPIEGEL 27 / 2001 / 130 ("Gemeinsame Sünde")