Unsägliches Elend

Härter noch verhielten sich die Provinzialstände gegenüber den Juden. Das befreiende Edikt vom 11. März 1812 war in den neuen Provinzen noch nicht eingeführt, nur seine Vorschriften über den Staatsdienst galten selbstverständlich für den gesamten Staat und wurden überall streng eingehalten: auch in den Rheinlanden, wo man einige von Frankreich übernommene jüdische Subalternbeamte in der Stille pensionierte. Nach dem Kriege bemühte sich Hardenberg mehrmals, den jüdischen Freiwilligen, zumal den Rittern des Eisernen Kreuzes, eine Anstellung oder doch eine Entschädigung zu erwirken; jedoch das gesamte Staatsministerium wollte von dem Buchstaben des Gesetzes nicht abweichen, da den Juden bereits "ohne alle Aufopferung die früheren Rechte so bedeutend erweitert" worden seien, und einigte sich schließlich zu dem Beschlusse, daß jüdischen Soldaten niemals ein Zivilversorgungsschein gegeben werden dürfe, nur in besonderen Fällen Unterstützung oder Pension. Der König hegte, wie den Ministern wohl bekannt war, im Grunde seines Herzens eine ebenso lebhafte Abneigung gegen das Judentum wie einst Friedrich der Große. Auswärtigen Juden erteilte er das Staatsbürgerrecht nur selten und nach sorgfältiger Prüfung. Er hoffte, durch die religiöse Bekehrung den alten Gegensatz allmählich verschwinden zu sehen und schenkte seine besondere Gunst dem neuen Vereine "zur Verbreitung des Christentums unter den Juden", der im Jahre 1824 mehrere hundert Bekehrungen verzeichnen konnte, doch gegen den Stamm des strengen Altjudentums nichts ausrichtete. Indes von dem bereits Gewährten dachte Friedrich Wilhelm nicht wieder abzugehen, und nur einmal ließ er sich zu einer Zurücknahme bewegen: Dezember 1822 wurde den Juden der Zutritt zu den akademischen und Schulämtern wieder untersagt, "wegen der bei der Ausführung sich zeigenden Mißverhältnisse". Unterdessen bestanden in den neuen Provinzen des Ostens noch die harten kursächsischen und schwedischen Judengesetze, im Westen die Vorschriften des Code Napoleon. Um diese unerträgliche Ungleichheit zu beseitigen, verlangte die Krone den Rat der Provinzialstände.

Da brach auf allen acht Landtagen stürmische Entrüstung los. Der Groll, der hier redete, entsprang nicht, wie vormals der Judenhaß der Burschenschaft, einer unklaren christlich-germanischen Schwärmerei, sondern der wirtschaftlichen Bedrängnis des Landvolks; denn unsägliches Elend hatten jüdische Wucherer und Güterschlächter während der schweren Krisis, die um die Mitte der zwanziger Jahre die deutsche Landwirtschaft heimsuchte, über Grundherren und Bauern gebracht. Angesichts solcher Erfahrungen hielten die Grundbesitzer fast allesamt für ausgemacht, daß die Gesetzgebung der napoleonischen Zeit die Juden weder veredelt, noch sie ihren christlichen Mitbürgern näher geführt habe. Kein einziger der acht Landtage empfahl die allgemeine Einführung des Edikts von 1812. Alle verlangten vorbeugende Maßregeln zum Schutze des Grundbesitzes; schade nur, daß die Vorschläge wieder sehr weit auseinander gingen. Die einen wollten den Juden den Ankauf von Landgütern, die anderen den Hausierhandel und alle Darlehnsgeschäfte untersagen. Auch sollte ihnen nicht erlaubt sein, sich die Namen geachteter christlicher Familien anzueignen; diese Bitte kehrte fast auf allen Landtagen wieder, da die großen altgermaischen Geschlechter der Lehmann und Meier sich über ihre neue morgenländische Namensvetterschaft gar nicht trösten konnten. Die drei Grenzprovinzen des Ostens forderten außerdem noch strenges Einschreiten wider die Landplage der schnorrenden und schachernden Einwanderer, die aus der polnischen Wiege des deutschen Judentums jahraus jahrein westwärts zogen und zumal in Ostpreußen die öffentliche Sicherheit ernstlich gefährdeten.

 

Quelle: "Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert", Heinrich von Treitschkes Buch neu aufgelegt im Emil Volmer Verlag (Phaidon Verlag), Essen, 2001, ISBN 3-88851-224-7, Seite 334