Soziales Verhalten
Auch die Ideologie des
gemeinsamen Kibbuz‑Vermögens als Mittel des sozialen Ausgleichs lebt in
der israelischen Gesellschaft weiter. Der Anteil des Staates am Volksvermögen
und der Prozentsatz der Staats‑ an den Gesamtausgaben der Wirtschaft sind
wesentlich höher als in anderen Industrieländern. Doch auch bei diesem Leitbild
hat sich der ursprüngliche Sinn im neuen Umfeld in sein Gegenteil verkehrt. Von
allen Seiten wird mit Kräften versucht, den Staat für die eigenen
Sonderinteressen auszumelken. Die Orthodoxen und Siedler gehen dabei besonders
rücksichtslos vor, doch üben auch viele andere Verrat an der ursprünglichen
Idee, nicht zuletzt Knesset-Abgeordnete und Minister. In einem Kibbuz wäre es
nicht denkbar, dass Mitglieder-Gruppen oder einzelne Personen versuchen
würden, Hand an das Gemeinschaftsvermögen zu legen. Es gehörte zur Ideologie,
möglichst viel zu geben und möglichst wenig zu nehmen. Damit ist es in der
israelischen Gesellschaft leider vorbei.
Die harte, schmutzige Arbeit
des früheren "chaluz" (Pionier, d.V.) überlässt man heute den Arabern, Afrikanern,
Thailändern oder Rumänen. Seinen Mut stellt man im Strassenverkehr
in kühnen Überholmanövern und Geschwindigkeitsexzessen unter Beweis. Die Wehrhaftigkeit
demonstriert man durch ein dominantes Gebaren, die Eroberung eines Parkplatzes
entgegen allen Regeln des Anstandes oder auch durch das lässige Umhängen einer
Pistole, die Zielstrebigkeit durch Vordrängen an die Spitze einer Warteschlange
und seine physische Überlegenheit durch wildes Herumfahren am Meeresstrand in
einem Jeep zur Aufschreckung der weniger pionierhaften
Badegäste. Die Umwelt ist feindlich, sodass man keine Schwäche zeigen darf:
nicht gegenüber der Mutter mit dem Kinderwagen, die den Fussgängerstreifen
überqueren möchte, nicht gegenüber dem Kunden, der eine Beanstandung vorbringt
und auch nicht in der Diskussion um Banalitäten. Notfalls schlägt man den zu
Tode, der den Strandstuhl für sich beansprucht.
Wer überleben will, muss stark
sein. Also wird immer und überall Stärke markiert, schon in der Art zu reden
und zu gehen.
Quelle: Ernest Goldberger in "Die Seele
Israels. Ein Volk zwischen Traum, Wirklichkeit und Hoffnung", Zürich 2004,
S. 121