Sozialer Makel  -  Staat und Judentum

 

Walther Rathenau erwidert auf einen Artikel des Herrn Geheimrat X.

 

Herr Geheimrat X. hat sich in freier und vornehmer Art über die Judenfrage geäußert. Er beginnt mit einer objektiven und weitgefaßten Analyse des jüdischen Geistes, kommt zu dem Schluß, daß eine Verschmelzung jüdischen Positivismus mit germanischer Transzendenz zu erstreben sei, und geht über zu den Ursachen der gegenwärtigen Absonderung.

 

Hier teilen sich unsere Wege zum ersten Male, denn X. erblickt den Inbegriff der trennenden Faktoren in der Synagoge.

 

Der heutige kultivierte Jude ist meines Erachtens weniger als irgend ein anderer zeitgenössischer Kulturträger vom Dogmatisch‑Religiösen abhängig. Er betrachtet seinen Väterglauben - vielleicht mit Unrecht ‑ als einen abgeklärten Deismus im Sinne der Philosophen des 18. Jahrhunderts, ist im mythologischen, historischen, exegetischen, dogmatischen, ja selbst im rituellen Bereich der alten Nationalreligion wenig bewandert, und tritt in der Regel nur anläßlich der sakramentalen Handlungen des Lebens in Berührung mit der Religionsgemeinschaft. Ein so lockeres Verhältnis schafft keine Absonderung; sonst müßte sie bei den weitaus glaubenseifrigeren Katholiken fühlbarer sein als bei den Juden.  

Die wahre Ursache der Trennung liegt in einer tiefen und alten Stammesabneigung.

 

Die Abneigung der Juden gegen die Germanen war in der Zeit der materiellen Bedrückung lebhaft, ja leidenschaftlich. Seit zwei bis drei Generationen ‑ ich rede durchweg von kultivierten Juden ‑ stirbt sie ab und weicht bei den jüngeren Geschlechtern einer rückhaltlosen Anerkennung der Nation, der sie den wertvollsten Teil ihrer Kulturgüter verdanken.

 

Auf christlich‑deutscher Seite ist die Abneigung bis vor etwa zwei Jahrzehnten stark angewachsen, und zwar in gleichem Maße wie die Zahl, der Reichtum, der Einfluß, die Konkurrenz, das Selbstbewußtsein und die Schaustellung der Juden fühlbar wurde. Seit der letzten Antisemitenperiode scheint der deutsche Antagonismus stabil geblieben, vielleicht um eine Kleinigkeit rückgebildet zu sein.

 

Auf ein Erlöschen dieser Abneigung ist kaum zu hoffen, solange der Staat sie durch differenzierte Behandlung billigt, anpreist und rechtfertigt, und solange gewisse Stammeseigentümlichkeiten den jüdischen Deutschen seinem christlichen Landsmann erkennbar und verdächtig machen.

 

Es liegt nahe, den Juden anzuraten, durch eine energische Selbsterziehung, die schon seit einem Jahrhundert von vielen geübt wird, alle korrigiblen Seltsamkeiten zu beseitigen. Vor Jahren habe ich dies ausgesprochen in der Meinung, daß so die edelsten Gegenkräfte des Antisemitismus geweckt und hiermit im eigentlichen Sinne Not zur Tugend werde. Doch habe ich mir nicht verhehlt, daß es hart ist, Opfer als Gegenleistung für Bedrückung zu verlangen, und daß dieses Volksopfer lange Zeitläufte zu seiner Erfüllung braucht.

 

X. stellt ein solches Verlangen nicht; er empfiehlt den Juden nichts weiter, als zum christlichen Glauben überzutreten.

 

Trotz falscher Diagnose könnte das Heilmittel nützen. Versuchen wir daher einmal, vorurteilsfrei festzustellen, was einem aufgeklärten Juden unserer Zeit die Taufe bedeutet.

 

Ich glaube, daß die vier Evangelien dem gebildeten Juden so vertraut sind wie dem gebildeten Christen, und habe niemals einen Juden getroffen, der die Ethik des Neuen Testaments abgelehnt hätte. Einzelne glauben sie im Alten Testament enthalten, andere erkennen rückhaltlos ihre Überlegenheit über alle uns bekannten Sittenlehren an. Die Transzendenz des Christentums: Erlösung durch Liebe ist eine dem Judentum sehr naheliegende Vorstellung, und die Göttlichkeit Christi im Sinne liberaler evangelischer Kirchenlehrer wird unter den Juden, die den Geist als Ausfluß der Gottheit fühlen, Bekenner finden.

 

Anders liegt es mit dem Bekenntnis der Taufe, dem Apostolikum. Ich weiß nicht, wie viele erwachsene evangelische Christen im Schoße ihrer Kirche verbleiben würden, wenn ihnen heute ein Modernisteneid im Sinne unbedingter Anerkennung des offiziellen Glaubensbekenntnisses zugeschoben würde. Für den Juden liegt der Fall schwieriger, je selbstverständlicher ihm die inneren Heilswahrheiten der christlichen Glaubenslehre erscheinen, desto entschiedener sieht er sich auf das eigentlich Trennende des Bekenntnisses, auf die dogmatisch‑mythologischen Bestandteile als die eigentliche, zu überschreitende Grenzlinie hingewiesen, und es wird nicht leicht sein, seiner Empfindung vernehmbar zu machen, weshalb diese überwiegend nachevangelischen Sätze, wie die von der Himmel- und Höllenfahrt Christi, über seine und seiner Kinder Lebenslage entscheiden sollen.

 

Dieser Konflikt wird von der staatlichen Kirche empfunden und geflissentlich vertieft. Auf einer früheren Synodalversammlung wurde bei der Beratung der Bekenntnisfrage im Hinblick auf die Judenbekehrung offen ausgesprochen: es sei an der Zeit, die Türen zu schließen. Mit anderen Worten: es sei angezeigt, die Gewissenszweifel jüdischer Proselyten zu benutzen, um ihnen den Zugang zur Kirche zu verstellen. Wieweit diese Taktik mit dem Geist der Evangelien zu vereinen ist, habe ich nicht zu beurteilen.

 

Wiederholt hört man sagen, es gäbe evangelische Geistliche, die es mit dem Glaubensbekenntnis so streng nicht nähmen. Insbesondere erklären getaufte Judenchristen fast übereinstimmend, in ihrem Falle sei es besonders milde hergegangen. Auf diese Betrachtungsweise einzugehen, verlohnt nicht. Sie steht auf der gleichen Stufe wie etwa eine Entschuldigung wegen Zollschmuggels in dem Sinne, daß der verantwortliche Beamte es an Vorsicht habe fehlen lassen.

 

Bedeutsamer für das Verhältnis des zeitgenössischen deutschen Juden zur Taufe als die Frage des Bekenntnisses ist ein zweites Moment. Jeder Staatsbürger weiß, daß mit der Zugehörigkeit zum Judentume nur bürgerliche Nachteile, mit Übertritt zum Christentume erhebliche Vorteile verknüpft sind.

 

Den Juden trifft ein sozialer Makel. In die Vereinigungen und den Verkehr des besseren christlichen Mittelstandes wird er nicht aufgenommen. Zahlreiche Geschäftsunternehmungen schließen ihn als Beamten aus. Die Universitätsprofessur ist ihm durch stille Vereinbarung versperrt, die Regierungs‑ und Militärlaufbahn, der höhere Richterstand durch offizielle Maßnahmen. In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male voll bewußt wird, daß er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist, und daß keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann.

 

Gleichzeitig aber erfährt er, daß ein Glaubensakt, gleichviel ob innerlich gerechtfertigt oder äußerlich herbeigeführt, seine Abstammung zu verdunkeln, seinen Makel zu tilgen, seine bürgerlichen Nachteile zu beseitigen vermag.

 

Daß der generationsweise wiederkehrenden, täglich erneuten Versuchung, die dieser eigenartige Ausfluß unserer Staatsweisheit herbeiführt, ein relativ kleiner Prozentsatz der deutschen Juden erliegt, offenbart meines Erachtens die stärkste Qualität des modernen Judentums. Ich weiß, daß Menschen, die sich von ganzem Herzen zum Christentume hingezogen fühlen, auf die äußere Zugehörigkeit verzichten, weil sie mit Belohnung verbunden ist. Diesem Verzicht liegt die Überzeugung zugrunde, daß ein ideeller Schritt seine Reinheit verlieren muß, wenn er zu materiellen Vorteilen führt; eine Erwägung, die nicht ganz zu der Vorstellung paßt, die man gemeinhin von der kühlen Berechnung des jüdischen Geistes sich bildet.

 

Die Forderung der Taufe enthält somit für den gebildeten und gewissenhaften Juden eine doppelt schwere Zumutung: sie legt ihm auf, ein altertümlich‑dogmatisch gefaßtes Glaubensbekenntnis abzulegen, von dem er weiß, daß die Verlegenheiten, die es bereitet, zu seiner Beibehaltung beitragen; sie legt ihm ferner auf, sich als einen Menschen zu empfinden, der von der Aufgebung seines Väterglaubens geschäftlich oder sozial profitiert; und zu guter Letzt nötigt sie ihn, durch den Akt löblicher Unterwerfung sich einverstanden zu erklären mit der preußischen Judenpolitik, die nicht weniger bedeutet als die schwerste Kränkung, die ein Staat einer Bevölkerungsgruppe zuzufügen vermag. Denn man vergleiche alle Maßnahmen, die von der preußisch‑deutschen Politik gegen Volksgruppen selbst in der Gegenwehr oder im Zorn ergriffen worden sind, gegen Polen, Welfen, Dänen, Elsässer: niemals hat man gewagt, eine dieser Gruppen in ausnahmsloser Gesamtheit sozial zu disqualifizieren.

 

In diesem Zusammenhange darf und muß es ausgesprochen werden: die der preußischen Judenpolitik zugrunde liegenden Vorstellungen sind rückständig, falsch, unzweckmäßig und unmoralisch.

 


Rückständig: denn alle Nationen westlicher Kultur haben diese Vorstellungen aufgegeben, ohne Schaden zu erleiden.

 

Falsch: denn Maßnahmen. die gegen eine Rasse gedacht sind, werden gegen eine Religionsgemeinschaft gerichtet.

 

Unzweckmäßig: denn an die Stelle der offenkundigen Verjudung, die bekämpft werden soll, tritt die latente, und zwar auf Grund einer üblen Selektion; gleichzeitig wird eine große, konservativ veranlagte Volksgruppe in die Opposition getrieben.

 

Unmoralisch: denn es werden Prämien auf Glaubenswechsel gesetzt und Konvertiten bevorzugt, während hunderttausend Staatsbürger, die nichts anderes begangen haben, als ihrem Gewissen und ihrer Überzeugung gefolgt zu sein, in ungesetzlicher Weise und durch kleine Mittel um ihre edelsten Bürgerrechte verkürzt werden.

 

Ich wage fast zu hoffen, daß Geheimrat X. mir hierin recht geben wird: wenn man die Wahl hat, eine ungesunde und unhaltbare Staatsraison zu beseitigen oder eine halbe Million Menschen zum Glaubenswechsel zu bewegen, so sollte man es zunächst einmal mit dem einfacheren Mittel versuchen.

 

Die deutschen Juden tragen einen erheblichen Teil unseres Wirtschaftslebens, einen unverhältnismäßigen Teil der Staatslasten und der freiwilligen Wohlfahrts‑ und Wohltätigkeitsaufwendungen auf ihren Schultern. Sie hätten die Mittel in der Hand, um eine unvernünftige Staatsräson in kürzester Zeit unmöglich zu machen. Daß sie in weit überwiegender Zahl staatsfördernd gesinnt bleiben, beweist einen Gemütszug, der praktischem Christentum nicht unähnlich sieht.

 

Wie dem auch sei: die preußische Judenpolitik hat ihre Glanzzeit überschritten, die mit dem Kampfe Bismarcks gegen den Liberalismus zusammenfiel. Ein Industriestaat von der Bedeutung unseres Reiches bedarf aller seiner Kräfte, der geistigen und materiellen; er kann auf einen Faktor wie den des deutschen Judentums nicht verzichten. Noch ehe ein Jahrzehnt vergeht, wird der letzte Schritt zur Emanzipation der Juden geschehen sein.

 

Man kann nicht sagen, daß die deutschen Juden das erste Jahrhundert ihrer beginnenden Freiheit schlecht angewendet haben. Kulturell und materiell haben sie zum Wohl ihres Vaterlandes beigetragen. Ist der Makel sozialer Ungleichheit getilgt, so ist damit auch der offizielle Teil der Volksabneigung gegen die jüdischen Deutschen beseitigt und der Weg zum herzlichen Verständnis gebahnt. Undankbarkeit und Herzlosigkeit sind niemals Fehler der semitischen Rassen gewesen.