Der Schatten der Judenfrage

 

Professor Chaim Weizmann, Präsident der zionistischen Weltorganisation,

auf dem Karlsbader Kongreß im Jahre 1921:

 

„Zwei Grundlagen waren es, die hauptsächlich für den Aufbau der Politik maßgebend waren. Die erste lag sozusagen außerhalb uns. Das war eine Koinzidenz (Zusammentreffen, d.B.) von jüdischen Interessen mit den Interessen derjenigen Macht, die heute als Mandatarmacht dasteht. Das war Großbritannien ... Wenn Sie sich, meine Herrschaften, einbilden, daß diese Koinzidenz der Interessen eine strategische ist, so bauen Sie auf einer falschen Grundlage. Wenn Sie glauben, daß wir uns dazu hergegeben haben, als Agenten der englischen imperialistischen Politik in Palästina und im nahen Osten zu fungieren, so ist auch das eine falsche Grundlage. Und ich werde noch offener sein. Wenn es genützt hätte, wenn es für das jüdische Palästina genützt hätte, daß wir der englischen imperialistischen Politik dienen, so hätte ich das getan. Das ist es aber nicht, und wenn Sie heute alle englischen Imperialisten fragen, ob ihnen Palästina für ihre imperialistischen Zwecke nötig ist, so werden Sie ein glattes Nein bekommen. Palästina ist für England vom strategischen, vom militärischen Standpunkt nutzlos, und diejenigen, die sich eingebildet haben, daß wir, das ist das jüdische Palästina, absolut notwendig sind für den Lebensnerv Englands, den Suezkanal, haben sich geirrt; vielleicht verstehen die englischen Strategen ihr eigenes Interesse nicht, das ist möglich. Aber das ist ihre Meinung. Wenn Sie heute die Vertreter der englischen Marine und der englischen Armee fragen, so werden Sie von hundert Antworten 95 gegen das Beibehalten von Palästina erhalten. Also bilden Sie sich nicht ein, die Beschützer des Suezkanals zu sein. Dafür ist anderweitig gesorgt.

 

Es ist aber eine andere Koinzidenz von Interessen: gerade die, auf welche Kaplansky aufmerksam gemacht hat, aber gedacht hat, daß wir diese Koinzidenz übersehen haben. Das ist, was man englisch ‚good will’ nennt, der ‚gute Wille’ des jüdischen Volkes. England mit seinem weltumspannenden Blick hat vielleicht aus Gründen, die ich andeuten möchte, mehr und eher als irgendeine andere Nation verstanden, daß die Judenfrage wie ein Schatten über die Welt herumspaziert und zu einer ungeheuren Kraft des Aufbaues und zu einer ungeheuren Kraft der Zerstörung werden kann. Und England hat uns verstanden – und darin liegt vielleicht ein kleines Verdienst von uns, daß wir dazu beigetragen haben, daß es uns versteht -, daß diese Ausnutzung des jüdischen guten Willens und die Kanalisation der jüdischen konstruktiven Kräfte durch Palästina von ungeheurem Nutzen wäre. Und darum waren es nicht die englischen Imperialisten, sondern die englischen Intellektuellen, die zunächst zur Grundlage unserer Politik wurden. Balfour hat die Balfour-Deklaration schon lange vor dem Kriege erkannt, der Krieg hat sie nur beschleunigt.

 

Die zweite Grundlage war der Wille des jüdischen Volkes nach Palästina. Meine Aufgabe war, Hindernisse zu beseitigen, einen Pfad zu schaffen, manchmal einen großen Weg, und manchmal einen kleinen, manchmal einen geraden Weg, und manchmal ging er auch nicht gerade ... Ich kann hier vor diesem Kongreß sagen und kann es auch belegen, daß es noch keinen Juden gegeben hat, der stolzer zu den Mächten gesprochen hat als wir. Wir wussten sehr genau, daß wir uns nicht auf Bajonette stützen, und ich kannte den Wert der Macht, von welcher Sie, Freund Kaplansky, sprechen. Wenn der Tag kommt, da die Briefe und die Gespräche, die Memoranden und Verhandlungen veröffentlicht werden können, so werden Sie sich überzeugen, daß ich ... mit erhobenem Kopf in Ihre Augen sehen kann und sagen: Wir haben das jüdische Volk in Ehren vertreten.“

 

Quelle: „Jüdische Rundschau“ 1921, Nr. 72