Safed
Auf jeden Fall machten Teile
ihrer Geheimlehre, versetzt mit messianischen Endzeiterwartungen, späterhin
immer wieder aufs Neue von sich reden. Der vielleicht wichtigste
Ausstrahlungspunkt war Safed, eine
der vier heiligen Städte des Judentums, seit dem 15. Jahrhundert Zentrum der
jahwitischen Gemeinde im Orient. Inspiriert durch die jüdische Tradition, daß
die messianische Ära ‑ wenn der Messias kommen würde, um das Gesetz
Gottes zu bringen ‑ durch fürchterliche Katastrophen eingeleitet würde,
richteten hier zwischen dem Berg Kanaan
und dem See Genezareth einige aus Spanien vertriebene Rabbis eine Kommune
ein, wo in Erwartung der neuen Morgenröte das Leben auf den Prinzipien der
Frömmigkeit und mystischer Kontemplation geführt wurde. Um den Kern eines
wiederbelebten Sanhedrin ‑ eine alle Juden der Welt führende Regierung ‑
zu bilden, wurde am gleichen Ort 1539 die alte Praxis der Priesterweihe wieder
eingeführt. Manches Internum dieser Ordensgemeinschaft ist bis heute nicht
bekannt, da die esoterische Ausbildung in absichtlich klein gehaltenen Gruppen
stattfand, deren Mitglieder zur absoluten Verschwiegenheit verpflichtet waren.
Die endzeitliche Mystik von Safed beeinflußte gleichermaßen die
Entstehung des Chassidismus und des Sabbataismus im Gebiet der Moldau. Die
Sekte der Sabbatianer fußt auf den Lehren des jüdischen Schwärmers Sabbatai
Zwi, der sich für den für 1648 erwarteten Messias ausgab. Er wurde verbannt,
lebte dann in Jerusalem und Ägypten und kehrte von da in seine Heimat zurück,
begleitet von dem angeblichen Propheten Nathan aus Gaza, der überall von den
Wundern und der Herrlichkeit des neuen Messias predigte. In Smyrna empfing man
Zwi 1666 mit Triumph. Immer mehr Thoragläubige wurden von dieser Bewegung
ergriffen, bis die türkische Regierung den selbsternannten Verkünder festnahm
und in das Dardanellenschloß Abydos einkerkern ließ. Um sein Leben zu retten,
bekannte sich Sabbatai Zwi zum Islam und wurde später nach Dulcigno in Albanien
verbannt, wo er starb. Noch 100 Jahre nach seinem Tod war der Glaube an den
angeblichen Messias wach geblieben.
Quelle: "Israels Geheimvatikan" von Wolfgang Eggert, München
2002, S. 23
Salomo Aben‑Jaisch
bemühte sich erneut um den Plan einer jüdischen Siedlung in Palästina. Auf sein
Bitten stellte der Sultan abermals das Gebiet um Tiberias zur Verfügung.
Angehörige aus Salomos eigener Familie setzten sich tatkräftig an Ort und
Stelle ein. Sie zogen nach Galiläa und gingen daran, die unterbrochene
Pionierarbeit wiederaufzunehmen. Der mutige Versuch scheiterte ein zweites Mal.
Die Zeit war noch nicht reif.
Eine um so größere Bedeutung
errang dafür Safed. In ihm erblühte
ein neues Geistesleben, das durch das Wirken zweier Männer einen mächtigen
Einfluß auf das ganze Judentum ausüben sollte.
Joseph Karo, 1488 in Toledo
geboren, »das Haupt seines Zeitalters«, verfaßte in Safed seinen berühmt
gewordenen »Schulchan Aruch«, den "GedecktenTisch". Aus der
unübersehbar gewordenen und vielfach widerspruchsvollen halachischen Literatur
stellte er das jeweils gültige Gesetz beziehungsweise den angenommenen Brauch
zusammen ‑ systematisch, kurz gefaßt und jedermann verständlich. Vier
Bände enthalten die täglichen Pflichten, Sabbat‑ und
Festtagsbestimmungen, das Ritualgesetz, das Eherecht und das Zivilrecht.
Bereits 1564 erschien die erste gedruckte Ausgabe in Venedig. Der Erfolg des
Werkes, das den Abschluß einer langen Reihe von Gesetzesbüchern bilden sollte,
war ohne Beispiel. Zwar wurden zu diesem Kodex vielfach Ergänzungen und
Kommentare verfaßt, doch keines der späteren Gesetzesbücher errang die gleiche
Autorität, Die »Lebensführung nach dem Schulchan Aruch« und nicht mehr nach dem
Talmud wurde zum Wahlspruch der Juden.
Zugleich begann eine mächtige
religiöse Strömung die Judenheit in ihren Bann zu ziehen: Die Mystik nahm einen
gewaltigen Auftrieb. Leiden und Verfolgungen ließen die gepeinigten Seelen
nicht nur in sittlichen Forderungen, im überlieferten Gesetz Halt suchen,
sondern sich mit leidenschaftlicher Sehnsucht dem übersinnlichen zuwenden und
in die Geheimnisse der übernatürlichen Welt einzudringen trachten. Neben das
Rationale trat die Kontemplation ‑ die Kabbala als die jüdische Mystik. »Empfangen« bedeutet das Wort
Kabbala, »Überlieferung«, und soll besagen, daß die Kabbala ebenso wie das
Gesetz Teil der Tradition und göttlichen Ursprunges sei. Was sie lehrt, wurde
nach 1100 in Frankreich, Deutschland und Spanien, wo die Kabbala in Gerona
unter Nachmanides ihre Blüte erlebte, zuerst mündlich verbreitet. Dann tauchte
Ende des dreizehnten Jahrhunderts plötzlich der »Sohar« auf, das »Buch des
Glanzes«. Simeon ben Jochai, ein Schüler Akibas, der in Jabne wirkte, sollte es
verfaßt haben; in Wirklichkeit hatte es Mose de Leon (12 50‑1305)
kompiliert.
Hinter dem einfachen Wortsinn des biblischen Textes suchte man geheime
göttliche Offenbarungen. »Wehe dem Menschen, der da wähnt, die Thora enthalte
alltägliche Geschichten und Gespräche von Einfaltspinseln! Die Einsichtsvollen
geben nichts auf das Gewand, sondern auf den von ihm bedeckten Leib; noch
weitere blicken in die Seele hinein, in den Sinn der Thora, um in der künftigen
Welt auch die Seele der Seelen, das heißt Gott selbst zu schauen ... «
In Safed, in dessen Nähe auch die letzte Ruhestätte Simeon ben Jochais
lag, erblühte ein neuer Mittelpunkt der Kabbalistik ‑ angeregt durch die
Lehren und Gedanken des Isaak ben Salomo Luria. Sein Schüler Chajim Vidal
zeichnete alles auf, was er von seinem Meister vernommen hatte, als dieser 1572
starb. Und von Galiläa nahm die
»praktische Kabbala« ihren weltweiten Weg über die ganze Türkei, nach Italien,
Deutschland und bis nach Polen...
Quelle: "Und wurden zerstreut unter alle Völker" von Werner
Keller, München/Zürich 1966, S. 318 f