Walther Rathenaus Visionen

 

Auszüge aus „Kritik der dreifachen Revolution“ (1919)

 

(...) Wir kämpfen noch um unser Leben als Nation, und die wenigsten von uns wissen, wie hart dieser Kampf uns zugedacht ist. Kann er gewonnen werden, so nur durch gewaltigste Anspannung des Geistes. Von Macht kann niemals mehr die Rede sein. Aus dem kleinen Kreise der Völkeroligarchie steigen wir nieder in den größeren Kreis des Völkerproletariats. Den großen Kampf der Erdenvölker gegen ihre unterdrückenden Beschützer, den Sozialkampf höherer Ordnung, der mit der Aufhebung des Nationalismus endet, so wie der niedere Kampf der Schichten mit der Aughebung der Klasse endet, ihn werden wir, und mit geistigen Waffen, auf der Seite der Unterdrückten führen. (...)

(Seite 57)

 

(...) Wie sollten wir den hundertjährigen Abschied nehmen, wenn nicht mit glaubenden Herzen und um der Gerechtigkeit willen? Wie sollten wir scheiden von der Zeit des leichten Lebens und der Beweglichkeit, von dem sommerlichen Glanz eines reichen, selbstbestimmenden Landes, vom Überschwang des Neuerzeugten, von farbiger Heiterkeit der Menschen und Dinge? In Herbst und Dämmerung, Ernst und Dunkel gehen wir auf hundert Jahre, in böse Kämpfe und harte Mühsal, wo Blut und Leben billig sind wie in alter Vorzeit. Nicht dumpf und ahnend wie die Väter treten wir in den dunklen Zeitraum, sondern wissend, wollend, hohen Hauptes. Sühne steht über der Pforte, und Wiedergeburt über dem Ausgang, den keiner erblickt von denen, die eintraten. (...)

(Seite 65)

 

(...) O du Deutschland! Geliebt in deinem törichten Wahn, zehnfach geliebt in deinem gottvergessenen Irren und Laster, zehntausendfach geliebt in deinem schmachvollen Leiden, was weißt du von deinem Schicksal? Was weißt du davon, daß du um des Geistes willen da bist, um deines Geistes willen, den du nicht kennst, den du vergessen hast, den du verleugnest? Wehe dir! Um seinetwillen darfst du nicht sterben und nicht ruhen. Du bist verhaftet und verfallen, und wenn die Hände der Menschen dich loslassen, so fällst du in die Hände Gottes. (...)

(Seite 67)

 

(...) Was wir erleben und verwirklichen, ist ein Teil der ewigen Zeugung des immerwährenden Weltbrandes, der die Stoffe umwälzt, um Geist zu entbinden.

(Seite 67)

 

(...) Wenn aber dereinst Christus wiederkehrt, aus den Höhen des klassischen und gothischen Olymps auf den Boden, der heute die gemeinsame Heimat deutschen und jüdischen Geistes ist, nicht den Boden Galiläas sondern Germaniens, wenn er erscheint, nicht als Richter der Lebenden und Toten, sondern als Menschensohn und Gotteskind, so haben die drei Kirchen ein Ende und an der Stelle der Konfessionen herrscht unter den Menschen wieder ein Glaube. Hat das Judentum aber noch eine Mission auf der Erde, so ist es diese: kraft seiner Unberührtheit seine eigene evangelische Verkündung zu begreifen und zu erfüllen, die bis auf diese Tage aufgespart, nicht mehr durch die Übergewalt eines imperialen und gothischen Heidentums gefährdet ist.  Bis dahin mag jeder seiner Kirche geben, was der Kirche ist ...

(Seite 98 f)