Nahum Goldmann und der Sinn der Geschichte

 

1895 kam im litauischen Wischnewo Nahum Goldmann zur Welt, der als jahrzehntelanger Führer der Zionistischen Internationale „König des Diaspora-Judentums“ genannt wurde. Ohne zionistische Grundauffassungen aufzugeben, mahnte er vor allem in seinen letzten Lebens­jahren (er starb 1982 in Bad Reichenhall) zu ei­nem gemäßigten Umgang mit Deutschen und Arabern. Den Deutschen riet er, die Unterwür­figkeit nicht zu übertreiben („Ich empfand den Philosemitismus als ein Hindernis bei der Normalisierung“), und schon in den 70er Jahren nahm er hinter den Kulissen Kontakt zu Arafat auf. Goldmann war als sechsjähriger Knabe mit seinem Vater, dem jüdischen Literaten Solomon Zevi Goldmann, nach Deutschland gekommen. Im Ersten Weltkrieg verschaffte er sich mit der prodeutschen Schrift „Der deutsche Krieg“ einen Posten in der Porpagandaabteilung des Berliner Auswärtigen Amtes. Die Zionisten sahen Deutschland damals als Verbündeten gegen das als antisemitisch empfundene russische Kai­serreich und hofften auf Berlins Hilfe bei der Durchsetzung ihrer Palästina-Pläne. Seit Mitte der 20er Jahre gehörte Goldmann der Führung der Zionistischen Internationale an. Von 1953 bis 1978 war er Chef des Jüdischen Weltkon­gresses, von 1956 bis 1968 Präsident der Zio­nistischen Weltorganisation. Er schuf 1951 die „Claims Conference“ zur Durchsetzung von Wie­dergutmachungsansprüchen gegen die Deut­schen und gestand später ein, mit solch gewal­tigen Milliardensummen, wie sie die Deutschen schließlich zahlten, niemals gerechnet zu haben. In diesem Zusammenhang verriet Goldmann: „Ich habe die Erfahrung gemacht, daß die Leu­te, die irgendwie eine Nazi-Belastung hatten, im Umgang die leichtesten waren.“ In seinem 1978 erschienenen Buch „Das jüdische Paradox“ schilderte er, daß ihn Mussolini 1935 zu sich eingeladen habe, um einen Kompromiß zwi­schen Hitler und der Judenheit einzufädeln. Er, Goldmann, aber habe abgelehnt. Einen ähn­lichen Vermittlungsversuch habe auch der deut­sche Botschafter in London, Dr. Hoesch, unter­nommen, der ihn mit Göring zusammenbringen wollte. Auch dies lehnte der Zionistenführer ab. Goldmann im nachhinein: „Hätte ich Auschwitz voraussehen können, wäre ich vielleicht auf die­ses Angebot eingegangen.“

Quelle: „Wer ist wer im Judentum“ von David Korn, München 2000, S. 159

 

Wenn wir nun einen etwas genaueren Blick in die oben erwähnte Schrift „Der deutsche Krieg“ werfen, lesen wir erstaunliche Dinge, die der eine oder andere im Jahre 1915 überlesen oder nicht in seiner eigentlichen Bedeutung verstanden haben mag:

Ja, die Weltgeschichte hat einen Sinn; es mag kühn erscheinen, gerade in diesen Monaten, da Tausende angesichts dieses Weltkrieges ihren Glauben an den Sinn der Geschichte verloren haben. Aber eben darum muß es mit verstärkter Kraft verkündet werden: die Weltgeschichte hat einen Sinn. Und dieser Sinn machte diesen Krieg notwendig. (...)

 

Man kann den Sinn und die historische Mission unserer Zeit in einem zusammenfassen: ihre Aufgabe ist es, die Kulturmenschen neu zu ordnen, an die Stelle des bisher herrschenden gesellschaftlichen Systems ein neues zu setzen. Man hat dasselbe im Sinn, wenn man – wie üblich – unsere Zeit als eine solche des Übergangs bezeichnet. Übergangszeiten sind eben solche, die zwischen einer bisher geltenden Gesellschaftsordnung und einer neu zu errichtenden stehen und die Aufgabe haben, die alte durch die neue zu ersetzen.

Alle Um- und Neuordnung besteht nun in zweierlei: in der Zerstörung der alten Ordnung und dem Neuaufbau der neuen. Zunächst einmal müssen alle Grenzpfähle, Ordnungsschranken und Etikettierungen des bisherigen Systems beseitigt und alle Elemente des Systems, die neu geordnet werden sollen, als solche, gleichwertig untereinander, auseinandergelegt werden. Sodann erst kann das zweite, die Neuordnung dieser Elemente, begonnen werden.

So besteht denn die erste Aufgabe unserer Zeit in der Zerstörung: alle sozialen Schichtungen und gesellschaftlichen Formungen, die das alte System geschaffen hat, müssen vernichtet, die einzelnen Menschen müssen aus ihren angestammten Milieus herausgerissen werden; keine Tradition darf mehr als heilig gelten; das Alter gilt nur als Zeichen der Krankheit; die Parole heißt: was war, muß weg. Die Kräfte, die diese negative Aufgabe unserer Zeit ausführen, sind: auf dem wirtschaftlich-sozialen Gebiete der Kapitalismus, auf dem politisch-geistigen die Demokratie. Wieviel sie bereits geleistet haben, wissen wir alle; aber wir wissen auch, daß ihr Werk noch nicht ganz vollbracht ist. Noch kämpft der Kapitalismus gegen die Formen der alten traditionellen Wirtschaft, noch führt die Demokratie einen heißen Kampf gegen alle Kräfte der Reaktion. Vollenden wir das Werk der militärische Geist. Sein Uniformierungsprinzip wird die negative Aufgabe der Zeit restlos durchführen: wenn erst alle Glieder unseres Kulturkreises als Soldaten unseres Kultursystems uniformiert sind, ist diese eine Aufgabe gelöst. (...)

Quelle: „Der Deutsche Krieg“ / „Der Geist des Militarismus“ von N. Goldmann Stuttgart und Berlin 1915, S. 37 f (Hervorhebungen als Fettdruck sind im Original gesperrt geschrieben)