Mischehen
Die Existenz des Judentums ist bedroht: Die Hintergründe des Streits ums
Geld (Zwangsarbeiter-Entschädigung)
Bei der Auseinandersetzung um
die Wiedergutmachung von Zwangsarbeit im Dritten Reich bei deutschen Firmen
geht es (außer wohl den Anwälten) weniger ums Geld und nur bedingt um die
Betroffenen. Es geht um eine für das amerikanische Judentum (überlebens‑)wichtige
Frage: Die Stilisierung des Holocaust zum identitätsstiftenden Merkmal! Denn
das amerikanische Judentum ist existentiell bedroht; zumindest empfindet man
dies in Kreisen des World Jewish Congress (WJC) und anderer jüdischer
Organisationen so.
Was man
dort mit Beunruhigung sieht: Schon 1990 betrug die Quote der Mischehen 52
Prozent. Tendenz: klar steigend. Die religiöse Basis des Judentums erodiert damit
zusehends (Jude ist, wessen Mutter Jüdin ist). Zudem: Die nationale Komponente
Israel ist weitgehend obsolet geworden. Das Spendenaufkommen an Israel befindet
sich in einem dramatischen Rückgang.
Inzwischen werden
Befürchtungen laut, in höchstens zwei Generationen könnte das amerikanische
Judentum als kompakte Gemeinschaft verschwunden sein. Deshalb bemüht man sich
so um einen gemeinsamen Nenner. Und da bietet der Holocaust das geeignete Dach,
das eine jüdische Identität in den USA weiter gewährleisten kann.
Parallel zu dieser Entwicklung
verschob sich die Position des US‑Judentums von der Peripherie der
Gesellschaft als eine der zahlreichen Minderheiten ins Zentrum des politischen,
wirtschaftlichen und akademischen Lebens. Wohl keine Universität mehr ohne
Holocaust‑Lehrstuhl, keine größere Stadt ohne Holocaust‑Denkmal, ‑Museum
oder ‑Bibliothek. Die Holocaust‑Problematik wurde auf diese Weise
eine gesamtamerikanische.
Der Präsident des World Jewish
Congress und herausragende Geschäftsmann Edgar Bronfman erhielt noch zu Zeiten
von Israels Ministerpräsident Rabin für den WJC die Vollmacht, alle Juden in
Restitutionsfragen vertreten zu können. Der neue Regierungschef Israels, Barak,
will diese Vollmacht zurücknehmen.
Vor diesem Hintergrund erklärt
sich der Zeitpunkt, daß die Wiedergutmachungsfrage gerade jetzt ein solche
Dimension gewinnt. Neben der Schweiz und Deutschland richten amerikanisch‑jüdische
Organisationen ja auch Forderungen an Österreich, Frankreich, Holland oder
Portugal. Es geht um Bankkonten, Versicherungspolicen, Raubkunst, Immobilien.
Der Holocaust als Ereignis mit einzigartiger Dimension soll international
institutionalisiert werden.
Deshalb ist auch eine hohe
Emotionalisierung des Themas ‑ aus jüdischer Sicht ‑ wichtig.
Zahlen und Summen im Zusammenhang mit der Höhe der Wiedergutmachung bekommen
beinahe symbolischen Wert. So ist die Behauptung des JWC und der World Jewish
Restitution Organisation (WJRO) sowie der Claims Conference auf Basis eines
Gutachtens aus Texas ("Think‑tank" Nathan), es lebten noch 2,3
Millionen Zwangsarbeiter kaum nachvollziehbar.
Die Zahl der Zwangsarbeiter in
Deutschland bei Kriegsende betrug 7,8 Millionen. Während des Krieges mögen es
insgesamt 12 Millionen gewesen sein. Davon waren 8 Prozent Juden, 92 Prozent
Nicht‑Juden, in überwältigender Mehrheit Russen, Ukrainer, Weißrussen,
Polen. Der Großteil war schon damals über 21 Jahre alt. In den ehemaligen
Sowjetrepubliken beträgt das durchschnittliche Lebensalter heute 59 Jahre. Die
deutschen Zahlen, die von rund 240 000 "Sklavenarbeitern" und 750 000
"Zwangsarbeitern" ausgehen, sind somit weit realistischer.
Auch mit einem großzügigen
Angebot oberhalb der derzeit von deutscher Seite im Gespräch befindlichen 6
Milliarden Dollar wäre kein "Schlußstrich" unter die Sache möglich.
Rechtssicherheit gibt es schon gar nicht. Die Unternehmen müssen sich vielmehr
auf eine lange, harte Auseinandersetzung einstellen. Ruhe gäbe es nur bei einem
(unerfüllbaren) Angebot in Höhe der Forderungen der Gegenseite: 20 bis 50
Milliarden US‑Dollar. Je mehr man aber zögerlich Angebote unterbreitet,
ohne sich auf eine offensiv geführte Diskussion einzustellen, desto schwieriger
wird es, ohne schwere Blessuren für die deutsche Wirtschaft aus der Sache
herauszukommen. Die Schweizer Banken lassen grüßen.
Ansätze für Gegenargumente
gibt es: So sind Boykottdrohungen nicht mit der Charta der
Welthandelsorganisation WTO vereinbar. Selbst Stuart Eizenstat, für
Restitutionsfragen zuständiger Staatssekretär im US‑Schatzamt und
orthodoxer Jude, hat vor solchen Drohungen gewarnt . Auch die amerikanische
Rechtssituation ist keineswegs eindeutig zu Ungunsten deutscher Firmen.
Fazit: Es sollte in Anbetracht
zahlreicher Kompensationen in der Vergangenheit, die ohne großes öffentliches
Aufsehen auch von einzelnen Firmen durchgeführt worden. sind, zumindest möglich
sein, klarzumachen, daß von deutscher Seite keineswegs ein
"kleinliches" Angebot gemacht wurde.
Quelle: Bonner Brief - Die aktuelle Analyse aus
November 1999