Kabbala (2)
Natürlich ist die Kabbala eine esoterische Lehre, und ihr vertieftes
Studium war auf Gelehrte beschränkt. In Europa wurden, besonders nach 1750,
äußerste Maßnahmen ergriffen, um sie geheimzuhalten und ihr Studium zu
verbieten; erlaubt war es nur für reife Gelehrte und unter strenger Aufsicht.
Die ungebildeten jüdischen Massen Osteuropas besaßen keine wirkliche Kenntnis
der kabbalistischen Lehre, aber die Kabbala sickerte zu ihnen in Gestalt von
Aberglaube und magischen Praktiken durch. ...
Der Kabbala zufolge wird das
Weltall nicht von einem einzigen Gott, sondern von mehreren Gottheiten
verschiedenen Charakters und unterschiedlicher Wirkmächtigkeit regiert, die aus
einer nebulösen, weit entfernten Ersten Ursache hervorgegangen sind. Unter Weglassung
vieler Einzelheiten läßt sich das System wie folgt zusammenfassen: Aus der
Ersten Ursache wurden zuerst ein männlicher Gott namens 'Weisheit' oder 'Vater'
und dann eine weibliche Göttin namens 'Wissen' oder 'Mutter' hervorgebracht
oder geboren. Aus der Ehe dieser beiden wurde ein Paar jüngerer Götter geboren:
'Sohn', auch mit vielen anderen Namen wie 'Kleines Gesicht' oder 'Der Heilige
Gesegnete' belegt; und 'Tochter', auch 'Dame' (oder 'Matronit', ein aus dem
Lateinischen abgeleitetes Wort), 'Schechinah', 'Königin', und so weiter
genannt. Diese beiden jüngeren Götter sollten eigentlich vereint sein, aber
ihre Vereinigung wird durch die Machenschaften Satans verhindert, der in diesem
System eine sehr wichtige und unabhängige Persönlichkeit ist. Die Schöpfung
wurde von der Ersten Ursache ins Werk gesetzt, um ihre Vereinigung zu
ermöglichen, aber wegen des Sündenfalls wurden sie uneiniger denn je, und
tatsächlich hat Satan es geschafft, der göttlichen Tochter sehr nahe zu kommen
und sie sogar zu vergewaltigen (entweder scheinbar oder wirklich ‑
darüber gehen die Meinungen auseinander). Die Erschaffung des jüdischen Volkes
wurde unternommen, um den durch Adam und Eva verschuldeten Bruch zu reparieren,
und am Berge Sinai wurde das auch für einen Moment erreicht; der männliche Gott
'Sohn', inkarniert in Moses, wurde mit der Göttin Schechinah vereinigt.
Unglücklicherweise führte die Sünde des goldenen Kalbs erneut Uneinigkeit in
der Gottheit herbei; aber die Reue des jüdischen Volkes hat die Dinge einigermaßen
wieder ins Lot gebracht. Ähnlich hält man jedes Ereignis der biblischen
jüdischen Geschichte für mit der Vereinigung oder Trennung des göttlichen
Paares verknüpft. Die jüdische Eroberung Palästinas von den Kanaanitern sowie
der Bau des ersten und zweiten Tempels sind besonders günstig für ihre
Vereinigung, während die Zerstörung des Tempels und die Verbannung der Juden
aus dem Heiligen Land rein äußerliche Zeichen nicht bloß der göttlichen
Uneinigkeit, sondern auch eines wirklichen 'Hurens mit fremden Göttern' sind:
die 'Tochter' fällt ums Haar in die Gewalt Satans, während der 'Sohn'
verschiedene weibliche satanische Persönlichkeiten anstatt seiner eigenen Frau
ins Bett holt.
Die Pflicht frommer Juden
besteht darin, durch ihre Gebete und religiösen Handlungen die vollkommene
göttliche Einheit, in Form geschlechtlicher Vereinigung, zwischen den
männlichen und weiblichen Gottheiten wiederherzustellen. Deshalb wird vor den
meisten rituellen Handlungen, die jeder fromme Jude viele Male am Tag zu
verrichten hat, die folgende kabbalistische Formel rezitiert: 'Um des
[geschlechtlichen] Zusammenkommens des Heiligen Gesegneten und seiner
Schechinah willen ...' Die jüdischen Morgengebete sind gleichfalls so
angeordnet, daß sie diese geschlechtliche Vereinigung fördern, wenn auch nur
zeitweilig. Aufeinander folgende Teile des Gebets entsprechen mystisch den
aufeinander folgenden Stufen der Vereinigung. An einem Punkt naht sich die
Göttin mit ihren Dienerinnen, an einem anderen legt der Gott seinen Arm um
ihren Nacken und streichelt ihren Busen, und schließlich findet, wie
unterstellt wird, der Geschlechtsakt statt.
Andere Gebete oder religiöse
Handlungen sind, nach dem Verständnis der Kabbalisten, dazu bestimmt,
verschiedene Engel zu täuschen (die als niedere Gottheiten mit einem gewissen
Maß an Unabhängigkeit gedacht werden) oder Satan gnädig zu stimmen. An einer
gewissen Stelle des Morgengebets werden einige Verse auf aramäisch (statt des
gebräuchlicheren Hebräischs) gesprochen. Das ist vermeintlich ein Mittel, die
Engel zu überlisten, die die Tore handhaben, durch welche die Gebete in den
Himmel gelangen, und die Macht besitzen, die Gebete der Frommen auszusperren.
Die Engel verstehen nur Hebräisch und werden durch die aramäischen Verse
verwirrt; etwas durcheinandergebracht (vermeintlich sind sie weit weniger
schlau als die Kabbalisten) öffnen sie die Tore, und in diesem Augenblick
schlüpfen alle Gebete, einschließlich der hebräischen, durch. Oder nehmen wir
ein anderes Beispiel: sowohl vor als auch nach einer Mahlzeit wäscht sich ein
frommer Jude rituell die Hände, wobei er eine spezielle Segnung ausspricht. Bei
einer dieser beiden Gelegenheiten verehrt er Gott, indem er die göttliche
Vereinigung von Sohn und Tochter fördert; aber bei der anderen verehrt er Satan,
der die jüdischen Gebete und Rituale so sehr liebt, daß er, wenn er ein wenig
davon bekommt, damit eine Weile beschäftigt ist und vergißt, die göttliche
Tochter zu belästigen. Tatsächlich glauben die Kabbalisten, einige der im
Tempel dargebrachten Brandopfer seien für Satan bestimmt gewesen.
Beispielsweise wurden die an den sieben Tagen des Laubhüttenfestes geopferten
siebzig Ochsen angeblich Satan in seiner Eigenschaft als Beherrscher aller
Nichtjuden dargebracht, um ihn zu sehr damit zu beschäftigen, als daß er sich
am achten Tag, da das Opfer für Gott dargebracht wurde, störend hätte
einmischen können. Viele weitere Beispiele derselben Art ließen sich anführen.
Quelle: "Jewish History, Jewish Religion" von Prof. Dr. Israel
Shahak, London 1994, S. 107, Anm. 5 zu Kapitel 3 + S. 33 f