Hepp Hepp Hurra!
«Das deutsche Volk», hat
einmal einer gesagt, «besitzt zwei Leidenschaften: das Bier und den
Antisemitismus.»
Wenn man die Vorbereitungen zu den preußischen Wahlen mitansieht, muß man sagen, daß das Bier zwar achtprozentig, der Antisemitismus aber hundertprozentig ist. Die blinde Wut, mit der in Wahlparolen und an Stammtischen auf die Juden geschimpft wird, schmeckt verdächtig fatal. Was wird hier gespielt?
Die
Unzufriedenheit eines übervölkerten und geistig blockierten Landes ist allgemein.
Die deutschnationale Wahlparole «Schlagt die Juden tot!» ist deshalb nicht
ungeschickt, weil sie sich auf vorhandene Volksinstinkte verlassen kann, und
weil sie gewandt von den wahren Urhebern des nationalen Elends ablenkt. Die
Judenriecherei der nationalen Gesellschaft in Deutschland erinnert an die
romantische Aufgeregtheit französischer Nationalisten, die hinter allem Unheil
der Welt den boche und seine Spione wittern. Hierzulande kann nichts schief
gehen, ohne daß Monokelgesichter, die man sich besser in der Hose denkt, den
Juden die Schuld geben. Die Filme sind schlecht, weil sie von Juden hergestellt
werden, die Lebensmittel sind teuer, weil die Juden wuchern, die Presse ist
verjudet, die Regierung ist verjudet (vom lieben Gott verlautet noch nichts Näheres), und den Krieg haben wir
verloren, weil Juden heimtückisch die Front unterhöhlten. Nun war der besiegte
Militärbeamte Ludendorff kein Jude, und ich wüßte nicht, daß in der deutschen
Diplomatie, die in den Krieg hineingeschlittert ist, sehr viel Juden tätig
gewesen wären. Die ganz Strammen haben sich sogar ausgerechnet, daß Wilhelm II.
in seiner Blutzusammensetzung verjudet sei, und so, in anmutiger Mischung von
schnarrendem Offiziersgetön und Biergebrüll gegen die Juden, zieht ein Gesindel
in den Wahlkampf, das eine Welt ins Unglück gestürzt hat. Hepp hepp Hurra!
Über
den Antisemitismus ist, wie über jede Abneigung einer Rasse gegen die andre,
wohl zu reden. Was aber hier getrieben wird, ist Volksverdummung schlimmster
Art, und das alte Wort Roda Rodas paßt wie gehauen hierher: «Der Antisemitismus
. .. eine ganz nette Sache. Aber er wird wohl erst etwas werden, wenn ihn die
Juden in die Hand nehmen!» Das ist ganz richtig, denn jeder kluge Jude, der die
Nachteile seiner Rasse durchschaut hat, könnte viel bessere und schlagendere
Dinge gegen das Judentum anführen, als alle deutschnationalen Vollbärte
zusammen.
Was
diese Ritter von der traurigen Gestalt anfingen, wenn sie keine Juden hätten,
ist nicht auszudenken. Sie leben geradezu von ihnen. Und kaum ein Argument
stimmt.
Ein
typisches Mischvolk wie die Deutschen, das besonders in seiner östlichen
Zusammensetzung von Wenden, Kaschuben, Polen und einem Schuß Niedersachsen
niemals eine einheitliche germanische Rasse bildete, hat keinen Grund, über Rassenvermischung
zu schelten. Und das vor allem deshalb, weil die Deutschen weniger die Fehler
der Juden, als die assimilierten Juden germanische Untugenden angenommen haben.
Nichts
stimmt. Der Vorwurf, daß das öffentliche Leben verjudet sei, ist ein Eingeständnis
germanischer Schwäche. Der französische Zeichner Caran d'Ache zeichnete einmal
eine Landstraße, auf der ein Jude und ein Franzose sich begegnen. In der Mitte
zwischen ihnen liegt ein Frankstück. Beide bücken sich gleichzeitig danach. «Mais c'est le juif que aura le franc!» («Aber der Jude faßt das Geld!») Der Vorwurf des
Wuchers dem Juden gegenüber ist bei dem Verhalten der deutschen Landwirtschaft,
die die Großstadt systematisch sabotiert, ein Unding. Auf einen Schmuhl kommen
zehn Piesekes, und was die Grenadierstraße im Kleinen kann, das kann Herr
Stinnes im Großen schon lange.
Politisch lenkt die
Wahlparole gegen die Juden die Aufmerksamkeit eines schwer düpierten Volkes von
seinen eigentlichen Verbrechern ab: von den Diplomaten, die zu dumm waren, bei
einem fremden Volk mehr als den Smokingschnitt zu studieren, von einer
preußischen Verwaltungskaste, die auf dem <Untertan> herumregierte und
sich für eine eingebildete Tätigkeit bezahlen ließ, von den Richtern, deren
Fünfmännerskat der Justitia dem wahren Volksempfinden dauernd ins Gesicht
schlug, von den Offizieren, die mit Christus auf einem schlechten Fuß standen,
weil der nur g. v. Heimat war — kurz, von den Repräsentanten eines schlechten
Deutschtums, das einen zweifeln ließ, ob es ein besseres gab. Ohne Juden macht
dem Deutschnationalen der Wahlkampf überhaupt keinen Spaß. Ohne Juden könnte er
ihn nicht führen.
Er
führt ihn aber, weil es leider eine große Menge Leute gibt, die sich vom
Papagei nur dadurch unterscheiden, daß sie nicht so hübsch anzusehen sind. Die
Hausfrau des kleinen Mittelstandes, viele mittlere Beamte, die Honoratioren der
kleinen Stadt — all das hat eine dumpfe Wut gegen den geistig flinkeren Juden
und benutzt mit Wonne die Gelegenheit, dem lästigen Konkurrenten eins auszuwischen.
Keiner ahnt, wie er sein Vaterland blamiert, wenn er zugibt, daß ein verheerender
Einfluß seiner Juden ein ganzes Land ruinieren könne. Die ärgsten
Durchhalteschreier im Kriege waren nicht Juden, sondern interessierte Offiziere
und Beamte, teutonische Professoren und evangelische Frauen, die durch ihre
Maulfertigkeit das Land ins Unglück gehetzt haben. In ein Unglück, das man nun
den Juden zuschreiben will.
Deren
Haltung ist nicht einwandfrei. Unter den deutschen Juden gibt es bekanntlich
(und ganz besonders in Berlin) eine große Anzahl von Leuten, die sich ihres
Judentums wie einer Krankheit schämen, und die ihren Kindern bei Tisch in
Gegenwart der Dienstboten mit einem ängstlichen «Stike!» das Wort
<Synagoge> verbieten. Diese guten Kaufleute und schlechten Musikanten
waren gern bereit, dem Kaiser ihre Söhne hinzugeben — aber sie sind gar nicht
bereit, der konkursverwaltenden Regierung, die das Abenteuer des schlechten
kaiserlichen Deutschlands auszulöffeln hat, ihre Steuern hinzugeben. Und aus einer
sinnlosen Angst vor einem Bolschewismus, den sie immer gefürchtet und niemals
gefördert haben, sind sie bereit, mit jeder Ordnungsstütze Halbpart zu machen.
Wäre die Deutschnationale Partei nicht so hirnlos dumm, antisemitisch zu sein,
so würde sich ihr ein großer Teil der von Natur aus konservativen Judenschaft
zuwenden; ja, ich kenne sogar Fälle von Juden, die so ehrvergessen sind,
deutschnational zu wählen. Der größte Teil rettet sich in die zu nichts
verpflichtende Demokratische Partei, weil die, wie alles, so auch die jüdische
Frage hübsch vertuscht. (Gibt es doch sogar große demokratische
Tageszeitungen, für die das zionistische Problem nicht existiert.)
Aber
so tief dringen völkische Hochschüler, Oberförster und Turnlehrer nicht. Da
wogt unentwegt die deutsche Mannesbrust, da weht der linsenbesetzte Vollbart im
Winde, da schmettert deutscher Heldengesang Lieder in die Luft, die Welsche,
Juden und Neger auf eine Stufe
stellen, nur, weil sie nicht deutsch sind. Übermäßiges Betonen der nationalen Eigenart
ist noch stets eine Schwäche gewesen.
«Kauft nicht bei
Juden!» — Das ist nun eine Wahlparole für denkende Menschen, dadurch ist auf
einmal eine trauliche Einheitsfront geschaffen, und der bayerische
Bierphilister, der ostpreußische Schnapsbrenner, der rheinische
Großindustrielle — hier kämpfen sie auf einmal getreulich Schulter an
Schulter. Ich habe gar nichts gegen Kollektivurteile, die immer ungerecht und
doch oft gerecht sind. <Der Jude .. . Das ist richtig und falsch, weil man
nicht den einzelnen meint, sondern den Typ. Es ist ein Urteil über eine
Gesamtheit wie zum Beispiel diese: Der deutsche Offizier hat im Kriege nichts
getaugt; der deutsche Richter genießt in politischen Strafprozessen nicht das
Vertrauen des Volkes; der preußische Verwaltungsbeamte neigt dazu, auf Kosten
der Allgemeinheit seinen Schreibapparat zu überschätzen.
«Kauft
nicht bei Juden!» Sie kaufen doch. Der ganze Antisemitismus ist wie zerblasen,
wenn es ans Geschäftemachen geht, und kein deutschnationaler Schieber geniert
sich, mit irgendeinem lodzer Juden in Ausfuhrbewilligungen ein Ding zu drehen.
Genierte sich im Kriege der Offizier, seine dreihundert Eier als
<Funkergerät> mit Hilfe der Einwohnerschaft galizischer Städte so in die
Heimat zu verschieben, daß die ehrfurchterschauernde Judenschaft noch etwas von
ihm lernen konnte? Er genierte sich nicht.
Das
hat einen Krieg verloren. Das weiß heute noch nicht, daß eine Welt über
Eigenschaften, die man hierzulande den Kindern als Tugenden aufpfropft, einst
mit Haß und nun mit achselzuckender Verachtung hinweggeschritten ist. Und weiß
diese bittere Wahrheit nicht, die einmal Georg Metzler in der <Weltbühne>
gesagt hat: «Was die Juden unter den Deutschen, das sind die Deutschen
unter den Nationen!»
Und
wenn Ludendorff einmal vor seinen himmlischen, nicht aus Preußen stammenden,
also unbefangenen Richter tritt, dann wird der das Flammenschwert heben und
wird sprechen: «Erich! Zwei Millionen Tote! Was hast du getan?»
Und der ergraute Kadett wird die Hornbrille
abnehmen, sich den Kragen zurechtrücken und in preußischer Tonart, stramm und
doof, antworten: «Lieber Gott, es waren die Juden!»
Quelle: Kurt Tucholsky (1921)
Anmerkung: Der oben erwähnte Schriftsteller Alexander Roda Roda war
1872 in Slawonien geboren und verstarb 1945 in New York. Er war ursprünglich
österreichischer Offizier und emigrierte 1938 nach Amerika. Sein Werk besteht
insbesondere aus Anekdoten, Humoresken, Schwänken, satirischen Romanen und
Komödien. Seine oben von Tucholsky wiedergegebene Äußerung („Der Antisemitismus
... eine ganz nette Sache. Aber er wird wohl erst etwas werden, wenn ihn die
Juden in die Hand nehmen!“) entspricht fast wörtlich der Andeutung des
berühmten jüdischen Malers Max Liebermann aus Berlin (1848 – 1937 / Präsident
der Preußischen Akademie der Künste, Träger der Friedensklasse des Pour le
Mérite und des Adlerschildes des Deutschen Reiches) gegenüber dem Chemiker und
Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald („Wissen Sie, das mit dem Antisemitismus wird
erst was werden, wenn’s die Juden selbst in die Hand nehmen!“). Fürwahr sehr
gefährliche Worte, wenn man weiß, wie viele Pogrome von – teilweise getauften –
Juden angezettelt wurden; Dietrich Bronder („Bevor Hitler kam“, S. 332 f) nennt
allein schon zwölf Fälle seit dem Jahr 1298!