Die Khasaren (2)
Chasdais Nachforschungen
verdankt die Nachwelt ... genauere Nachrichten über das jüdische Reich der
Chasaren.
Von Gesandten aus Chorosan in
Persien hatte er (Chasdai Abu-Fadl, d.V.) eines Tages eine seltsam anmutende,
ihn außerordentlich erregende Kunde vernommen. Sie erzählten ihm von einem
fernen, im Stromlande der Wolga und an den Ufern des Kaspischen Meeres
gelegenen Reich, in dem ein jüdischer König herrsche. Alle Zweifel an der
Echtheit der Erzählung wurden behoben, als Chasdai auf seine Erkundigungen aus Byzanz
nähere Einzelheiten vernahm. »Von Konstantinopel nach jenem Lande dauert die
Reise auf dem Meere fünfzehn Tage. Zu Lande aber wohnen viele Völkerschaften
zwischen unseren beiden Reichen. Ein König namens Joseph regiert über das Volk
der Chasaren, aus deren Lande Schiffe mit Fischen, Fellen und Waren aller Art
zu uns kommen. Sie sind ein machtvolles Volk, dessen Streitscharen und Heere zu
gewissen Zeiten ausrücken.«
Entschlossen, mit dem fernen
Reich Kontakt aufzunehmen, in dem er eine Spur der verlorengegangenen zehn
Stämme Israels zu finden glaubte, verfaßte Chasdai ein langes hebräisches
Sendschreiben an den unbekannten König. »Das Land, das wir... die Überreste
Israels im Exil... bewohnen«, berichtete er, »heißt auf Hebräisch Sepharad, in
der Sprache seiner ismaelischen Bewohner aber al‑Andalus (Andalusien,
d.V.). Die Reichshauptstadt heißt Kortuba (Cordoba, d.V.). Der Name unseres
Königs ist Abd ar‑Rahman; man nennt ihn >Gebieter der Gläubigen<.
Sein Name ist allbekannt, und er hat unter allen früheren Herrschern nicht
seinesgleichen. Unser Land ist fruchtbar, reich an Quellen, Flüssen und
Zisternen. Es ist ein Land des Getreides, des Weines und des Öls, auch ist es
reich an Früchten und Spezereien, mit Gemüse‑ und Obstgärten bedeckt, und
seinem Boden entsprießen allerlei Bäume, fruchttragende wie seidenerzeugende, weshalb
wir denn auch Seide im Überfluß besitzen. Es strömen Kaufleute und Händler aus
aller Herren Ländern zu uns, von den fernen Inseln, aus Ägypten und anderen
obenan stehenden Reichen. Sie bringen aromatische Gewürze und Edelsteine mit
sich. Unser König häuft Schätze aus Gold, Silber und allerlei Kostbarem an.
Sein Heer ist zahlreicher als das irgendeines anderen Königs der Vorzeit. Seine
jährlichen Einkünfte, die bei mir einlaufen, betragen hunderttausend
Golddukaten; soviel bringen allein die ausländischen Kaufleute ein, deren in
meinem Verwaltungsressort liegende Handelsgeschäfte von mir überwacht werden.
Alle Herrscher der Welt, zu denen der Ruf von der Größe und der Macht unseres
Königs dringt, senden ihm Gaben, um sich sein Wohlwollen zu sichern, als da
sind: die Könige von "Aschkenas" (Deutschland), "von Gebalim
oder al‑Saklab" (der Slawen), "von Konstantinopel sowie viele
andere..."
Nach der Schilderung des
Kalifats von Cordoba kommt Chasdai mit seinem Anliegen: »Es verlangt mich
danach, die Wahrheit zu erfahren, ob es denn wirklich auf Erden eine Stätte
gibt, wo das gehetzte Israel über sich selbst verfügen darf, wo es niemandem
untertan ist. Wüßte ich, daß es denn in der Tat so ist, ich würde nicht zögern,
auf alle Ehren zu verzichten, mein hohes Amt niederzulegen... und so lange über
Berg und Tal zu wandern, zu Wasser und zu Lande zu reisen, bis ich jene Stätte
erreicht haben würde, wo mein Herr, der König vom Stamme Israel, gebietet. Wäre
es mir beschieden, seiner Größe, seines Ruhmes und des ihn umgebenden
glänzenden Gefolges sowie des ruhigen Daseins des Restes Israel ansichtig zu
werden ‑ meine Seele würde von Dankbarkeit zu Gott überfließen, der eine
Gnade von seinem armen Volke nicht abgewendet hat ... « »Und noch eine Bitte habe ich auf dem Herzen«,
schließt Chasdai seinen Brief, »möge man mich doch benachrichtigen, ob ihr
etwas über das Endwunder wisset, dessen wir solange, von Land zu Land
umherirrend, harren. Entehrt und im Exil gedemütigt, müssen wir stumm zuhören
denen, die da sagen: jedes Volk besitzt sein eigenes Reich, und nur ihr allein
ermangelt sogar des Schattens eines Reiches auf Erden.«
Auf langen Umwegen gelangte
das Sendschreiben durch Jakob ben Eleasar aus Deutschland glücklich in die Hand
des Chasaren‑Chagans Joseph. Jahre später, um 955, traf tatsächlich eine
Antwort in Cordoba ein. Voller Staunen nahm sie Chasdai zur Kenntnis.
Die Chasaren waren nicht
Nachkommen israelitischer Stämme, vielmehr heidnischen Ursprungs, verwandt mit
den Türken. Erst seit ihr König Bulan sich um 740 nach einer Disputation
zwischen einem Bekenner der christlichen, der mohammedanischen und der
jüdischen Religion zum Judentum bekehrt hatte, regierten in ihrem Reich Chagane
jüdischen Glaubens. Joseph führte die hebräischen Namen all seiner Vorgänger
auf: Obadja, Hesekja, Manasse, Chanuka, Isaak, Sebulon, Moses, Nisi, Menachem,
Benjamin und Aaron. Obadja habe überall im Lande Bet‑ und Lehrhäuser
gegründet und das Volk in der Heiligen Schrift unterrichten lassen. Doch seien,
wie er Chasdai wissen ließ, nach wie vor auch noch das Christentum und der
Islam verbreitet.
»Du fragst mich über mein
Land... Ich tue dir kund, daß ich beim Flusse Wolga Hof halte. An diesem Flusse
wohnen viele Völker in Städten und Dörfern, in offenen und befestigten Plätzen
... sie alle sind mir tributpflichtig. Von dort aus verläuft die Grenzlinie bis
zum Kaspischen Meer, dessen Küstenbewohner, die in einer Entfernung von einer
Monatsreise leben, mir insgesamt tributpflichtig sind... Du fragst mich auch
über meinen Wohnort. Wisse, daß ich mit göttlicher Hilfe an dem genannten
Flusse Wolga wohne, an welchem die drei Hauptstädte liegen. In einer von ihnen
wohnt die Königinmutter. Das ist meine Geburtsstadt. Sie ist fünfzig
Quadratparasangen groß und kreisförmig gebaut ... In der dritten wohne ich
selbst mit meinen Ministern, Sklaven und Dienern ... und sperre den Russen den
Weg. Das ist meine Residenz zur Winterszeit. Vom Monat Nissan an ziehen wir aus
der Stadt ‑ ein jeder nach seinem Weinberge, seinem Felde und seiner
Arbeit.« Genau beschreibt Joseph Ausdehnung und Lage des Chasarenstaates, den
Byzanz als Großmacht respektierte und dem die Sklaven unter den Nachfolgern
Ruriks Tribut zu entrichten hatten.
Quelle: "Und wurden zerstreut unter alle Völker" von Werner
Keller, München / Zürich 1966, S. 210 - 213