VOM WESEN DES DEUTSCHEN JUDENTUMS
Der erste Weltkrieg hat eine
Anzahl kleinerer Volkstümer zum Selbstbewußtsein erweckt oder ihnen doch die
Möglichkeit selbständiger Existenz verschafft. Nichts aber ist wunderbarer als
das Neuerwachen des Judentums. Diese Menschenart, vor zwei Jahrtausenden ein
Volk wie andere Völker, dann durch ein grausames Geschick über die ganze Erde
zerstreut und herumgetrieben, überall verfolgt, unterdrückt, verfemt und eben
dadurch in einer Sonderart erhalten, endlich befreit und nun mit überraschender
Schnelligkeit in die moderne Kultur hineinwachsend, so daß es längst in den
Völkern, unter denen es lebte, aufgegangen wäre, hätte nicht die antisemitische
Gegenwirkung den Verschmelzungsprozeß gehemmt, ‑ diese atomisierte
Menschenmasse ohne allen Zusammenhalt ist wieder (wenigstens ein Teil von ihr)
ein Volk geworden, hat ein neues Nationalgefühl gewonnen, und nun geschieht das
Wunder aller Wunder: sie kehrt zurück in das alte, vor Jahrtausenden verlassene
Stammesland, um dort inmitten der Barbarei und Verwüstung ein eigenes
staatliches Dasein aufzubauen. Diese Bewegung ist viel älter als der Weltkrieg,
aber er hat doch die äußere Möglichkeit der Verwirklichung bereitet. Welcher
Unbeteiligte würde eine so märchenhafte Erfüllung nicht mit herzlicher Freude
begrüßen?
Der Zionismus ist die Antwort
auf den Antisemitismus, und gewiß die würdigste, die gegeben werden konnte.
Werden die Juden von den Völkern, in deren Mitte sie leben, als unerwünschte
Fremdlinge angesehen, gut, so wollen sie wieder ein Volk für sich auf eigenem
Boden werden; dann ist beiden Teilen geholfen. Aber ist damit wirklich die
Judenfrage gelöst und aus der Welt geschafft? Ist es ‑ selbst wenn die
räumliche Möglichkeit gegeben wäre und wenn wir auf die Gefühle der einzelnen
keine Rücksicht nehmen ‑, ist es ein wünschbares, ja auch nur
vorstellbares Ziel, alle Juden nach Palästina zu verpflanzen? Ist die heutige
Judenschaft, wie sie nun einmal unter dem Zwange ihrer Geschichte geworden ist,
so geartet und zusammengesetzt, wie es für ein solches Experiment notwendige
Voraussetzung wäre? Das neue Land braucht vor allem ein breites, tüchtiges,
gesundes Bauerntum. Gerade dafür aber fehlt alle Tradition, und nur ein Teil
der Juden dürfte die Eignung und Neigung dazu besitzen. Ganz unmöglich aber
könnte es die Menge der Handelsleute und Intellektuellen aufnehmen, die heute
den Hauptbestand der Juden ausmachen. Diese können nur leben unter anderen
Völkern. Und so ist es ausgeschlossen, daß der Zionismus die Gesamtheit der
Juden aus ihrem Exil erlöst. Sein Verdienst und seine Leistung bleibt auch so
groß genug. Ein sehr großer, wahrscheinlich der größere Teil wird auch
fernerhin das Los der Fremdlingschaft tragen müssen.
Zionismus und Antisemitismus
sind sich einig in den theoretischen Voraussetzungen: sie gehen beide davon
aus, daß der Jude eben anderer Art ist als die Völker, unter denen er lebt, und
daß daher eine reinliche Sonderung eigentlich das Wünschenswerte wäre. Es wird
Zeit, daß wir diese Voraussetzung auf ihre Richtigkeit prüfen.
Sehen wir zunächst einmal die
Sache von der anderen Seite! Die Juden, wie sie jetzt sind, könnten nicht leben
in solcher Isolierung. Aber wir andern, wir Deutschen (denn darauf wollen wir
die Frage spezialisieren), könnten wir sie entbehren? Wenn Juden bei uns in
Handel und Finanz eine so unverhältnismäßig große Rolle spielen, beweist das
nicht, daß sie uns auf diesem Gebiete im Durchschnitt überlegen sind, daß wir
also ihnen nachstehen und auch den Völkern, wie Engländern und Amerikanern, wo
jenes nicht der Fall ist; daß mithin ihre Ausschaltung unsere Volkswirtschaft
beträchtlich in Nachteil setzen würde? Jedoch wir lassen das als zweifelhaft
und nebensächlich beiseite; es handelt sich um Größeres als um
Wirtschaftssorgen. Wir blicken nur auf die deutsche Kultur und nur auf die
oberste Schicht, wo die bleibenden Werte geschaffen werden. Können wir der
Juden entraten? In der Vergangenheit möchte es allenfalls angehen. Moses
Mendelssohn zählt nicht mehr zu den Grundpfeilern der deutschen Philosophie;
auf Heine würden manche verzichten, so schwer er aus der Geschichte der
deutschen Dichtung hinwegzudenken ist; Felix Mendelssohn‑Bartholdy wäre
ein schwerer Verlust für die deutsche Musik, doch sie bliebe ohne ihn reich
genug. Aber wie steht's mit der Gegenwart? Was wäre der deutsche Gedanke und
die deutsche Politik ohne Walther Rathenau, was die deutsche Wissenschaft ohne
Einstein, Gundolf, was die deutsche Dichtung ohne Lissauer und Stefan Zweig? ‑
um nur auf gut Glück ein paar der bekanntesten Namen zu nennen, denn ich kenne
mich in der Rassenfrage schlecht aus. Das Gebirgsland des deutschen Geistes ist
ohnehin nicht allzu reich an überragenden Gipfeln. Und ‑ nun die
Hauptsache ‑ sind sie denn nicht die Unsern im vollen Sinne? Gibt es,
kann es bessere Deutsche geben als etwa Lissauer, als Rathenau? ‑ Hier
gestatte man mir, einmal ganz persönlich von meinem Privatleben zu sprechen.
Ich bin aufgewachsen in einem
Dorfe, in dem es seit mindestens einem Menschenalter keinen Juden und also auch
keinen Antisemitismus gab. Ich war also ganz unbefangen, als ich mit 13 Jahren
auf das Gymnasium kam, und so konnte es nicht ausbleiben, daß ich bald mit den
beiden jüdischen Klassengenossen, sehr begabten und strebsamen (sonst unter
sich äußerst verschiedenen) Jünglingen, eng befreundet war. Diese Freundschaft
hat die Wandlungen der Werdejahre nicht überlebt, aber sie reichte hin, um mich
gegen die antisemitischen Miasmen, die schon damals die Luft der Göttinger
Universität erfüllten, immun zu machen. Göttingen war damals der Besitz Paul de
Lagardes, und ich muß es leider sagen, die einzige von diesem bedeutendem Manne
ausgehende Wirkung, die ich damals spürte, war ein recht abgeschmackter
Judenhaß. Später lernte ich dann ein Mädchen und eine Familie kennen, mit denen
ich bald in eine enge Verbindung kam, deren Gedächtnis mein Schriftstellername
festhält. Und nun muß ich auch bekennen, daß ich nie eine reinere,
vollkommenere Verkörperung all dessen kennengelernt habe, was ich als echt
deutsch und eigentümlich indogermanisch empfinde: intimes Naturgefühl, weite
und freie Menschlichkeit, tiefe, stille Innerlichkeit, die nach außen nicht
leicht hervortritt, sich unter harmloser Freundlichkeit birgt, reine Immanenz
des Gefühls in rückhaltloser Hingabe an Menschen und Dinge ‑ das
semitische Gefühl ist, wenn es überhaupt solche kategorischen Unterschiede
gibt, immer transzendent, sucht das konkrete Einzelne zu überfliegen und strebt
zum Unbedingten jenseits der Erscheinung. Ähnliches kann ich von ihren
Verwandten sagen. Sie waren mindestens von dem, was die gewöhnliche
Vorstellung, nicht ohne Grund, jüdisch nennt, völlig frei. Sie waren gute
Deutsche, und nur der aufkommende Antisemitismus hatte sie gehindert, sich
taufen zu lassen.
Was ich damals als
persönliches Erlebnis erfahren habe, ist eine Wahrheit von allgemeiner Geltung.
Sie heißt: Volkstum ist etwas ganz anderes und Tieferes als Rasse. Nicht das
Blut, die Abstammung ist es, was den Deutschen ausmacht; es kommt auf
geistigere Dinge an. Volk ‑ das ist zunächst und vor allem:
Sprachgemeinschaft. Von allen Momenten, die zusammenwirken, ist dies das
einzige, das theoretisch haltbar und praktisch brauchbar ist. Die ungemischte
Rasse ist ein Phantom, das die Forschung zerstört hat; die geschichtliche
Wirklichkeit zeigt uns beständige Mischungen, in früheren Zeiten noch massiver
als in den neueren. Und die Kraft und Trefflichkeit eines Volkstums zeigt sich
gerade in der Fähigkeit, fremde Bestandteile zu verdauen, sich einzuverleiben.
Wo gibt es ein kraftvolleres, energischeres Nationalgefühl als bei den
Franzosen? Und doch sehen wir diese Nation sich erst in relativ junger Zeit als
Mischungsprodukt aus Kelten, Römern und Deutschen bilden. Auch das deutsche
Volk hat fast überall keltische oder slawische Elemente aufgenommen, ganz abgesehen
von jenen unbekannten Urbewohnern, deren Name als dunkler Klang in Sage und
Namengebung fortlebt (Hunen, Haunen). Wie wäre es sonst so groß und weit, so
reich und bunt geworden1 Und auch die Beimischung jüdischen Blutes ist ein
wertvoller, an fruchtbaren Möglichkeiten reicher Zuwachs. Das gilt selbst von
den Elementen, die den spezifisch jüdischen Charakter aufweisen. Das
lebhaftere, reizbarere, beweglichere, feinfühligere Temperament mildert
wohltätig die der deutschen Art eigene Schwerfälligkeit und Neigung zu trägem
Beharren.
Volkstum ist zunächst
Sprachgemeinschaft. "Soweit die deutsche Zunge klingt", ist deutsches
Volk. Denn die Sprache ist einmal selbst Erzeugnis und Ausdruck eines
besonderen Volksgeistes, sodann ist sie das Gefäß für die reichsten und
eigentümlichsten Offenbarungen dieses Geistes, die den wertvollsten Bestand des
Gemeinbesitzes eines Volkes bilden und an denen jeder, der die Sprache spricht,
Anteil hat nach dem Maße seiner Bildung. Zweitens aber ist das, was ein Volk
schafft, staatliche Gemeinschaft und davon nicht zu trennen, gemeinsam erlebte
Geschichte. Daß Juden und Nichtjuden zusammen durch die Not und das Grauen des
Weltkrieges gegangen sind, daß sie Seite an Seite in den Schützengräben gelegen
haben, das hätte mindestens den Trennungsstrich für immer auslöschen sollen,
und wir empfinden den Schmerz, daß dies doch nicht geschehen, wie er aus
Tollers "Wandlung" klagt, im tiefsten Herzen mit.
Hat man dies wirklich
begriffen, dann wird man die Tatsache, daß viele der besten Deutschen heute
Juden sind, vielleicht immer noch als geheimnisvoll (das ist das Leben immer),
aber nicht mehr als Widerspruch empfinden.
Der deutsche Jude hat,
grundsätzlich als Möglichkeit, ein doppeltes Volkstum. Er hat von seinen
Vorfahren das Erbe des Blutes und das geistige Erbe von drei Jahrtausenden
(wenn er es noch hat). Er hat die Art des Volkes, unter dem er lebt, die er
durch Sprache und Bildung, durch allseitige Lebensgemeinschaft und täglichen
Verkehr empfangen hat und mit der Luft, die er atmet, beständig aufnimmt, ja,
die schon seine Eltern vor ihm angenommen und ihm vererbt haben. Was von beidem
mehr bedeutet, wird natürlich sehr verschieden sein, und nur sein Gefühl kann
dem einzelnen sagen, ob er mehr Jude oder mehr Deutscher oder beides gleich
stark oder keins von beiden ist. Doch es ist natürlich und unvermeidlich, daß
bei dem gebildeten Juden im allgemeinen der deutsche oder gemeineuropäische
Kulturanteil das alte Vätererbe weit überwiegt, daß sie aber andererseits doch
nicht so tief und fest im deutschen Boden verwurzelt sind wie die aus altem
Stamme und daher mehr geneigt sind, sich als Weltbürger zu fühlen.
Quelle: Heinrich Meyer-Benfey in "Die Hilfe" vom 15.5.1927
Anmerkung: Heinrich Meyer-Benfey (14.3.1869 - 30.12.1945) war Germanist,
Philologe und Literaturwissenschaftler. Als Privatdozent und Professor lehrte
er an der Universität Hamburg bis 1935. Zu dem von ihm angesprochenen Aspekt
der Bereicherung der deutschen Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft durch Juden
wird hingewiesen auf den Beitrag über Bernt Engelmann auf dieser Homepage,
insbesondere die Vorstellung seines Buches "Deutschland ohne Juden",
in dem er beschreibt, welchen Verlust das deutsche Geistesleben durch die barbarische
Judenpolitik der Nationalsozialisten erlitten hat.