Deutsche und Juden
Da wir das überaus
komplizierte Verhältnis zwischen den Deutschen und den Juden nun einmal berührt
haben, so sei doch auch daran erinnert, daß jener gewalttätige Antisemitismus,
wie er von jeher in Ländern Ost‑ und Südosteuropas fast endemisch
(dauernd vorhanden, d. V.) war, in Deutschland während des ganzen 19. und des
frühen 20. Jahrhunderts praktisch unbekannt gewesen ist. Wir wissen, daß sich
die Juden damals in Deutschland besonders heimisch gefühlt haben, und wer ein
lebendiges Bild von der Lage der deutschen Juden und ihren außerordentlichen
Aufstiegsmöglichkeiten gewinnen will, der wird mit Nutzen und Genuß die
"Erinnerungen" von Ludwig Bamberger (Berlin 1899) lesen. Auch das so
freundliche und warme Licht, in das deutsche Schriftsteller des 19.
Jahrhunderts wie Fritz Reuter in "Ut mine Stromtid" oder Wilhelm
Raabe in "Höxter und Corvey" die jüdischen
Gestalten ihrer Romane gestellt haben, ist gewiß
nicht ohne Bedeutung, wie leider auch umgekehrt der tendenziöse Antisemitismus,
mit dem dann der beliebteste Romandichter der Bismarckzeit, Gustav Freytag, den
Juden in "Soll und Haben" gezeichnet hat. Aber auch daran ist zu
erinnern, daß einige der besten Freunde Kaiser Wilhelms II. Juden waren und daß
noch während des ersten Weltkrieges in den alliierten Ländern immer wieder der
Versuch gemacht worden ist, die unsympathischen Züge Deutschlands nicht nur aus
einer "Verpreußung", sondern auch aus einer
"Verjudung" abzuleiten.
Quelle: "Die Deutsche Frage" von Wilhelm Röpke
(weiland Professor am Institut Universitaire de Hautes Etudes Internationales
Genf), 3. Auflage, Erlenbach-Zürich 1948, S. 13