Frau Hanna Braun von der Palestine Solidarity Campaign www.palestinecampaign.org mit Sitz
in London bat SteinbergRecherche um Veröffentlichung eines Briefes des israelischen
Universitätsprofessors Avraham Oz. Hier der Brief auf Deutsch.
Haifa, 19. September 2005
Liebe Freunde,
Das ist mein Vaterland -
wie allgemein bekannt, „die einzige Demokratie im
Nahen Osten“.
Das ist mein Vaterland -
wo Bürger, die sich aus Gewissensgründen gegen die in ihrem
Namen von Generälen, Offizieren und Soldaten im aktiven Dienst und als
Reservisten begangenen Greueltaten stellen, die Anrufung der internationalen
Justiz gegen Kriegsverbrechen betreiben, weil die israelische Justiz ihrer
moralischen Verpflichtung ausweicht. Und wo diese Bürger vom langjährigen
Likud-Abgeordneten Steinitz (einem ehemaligen Kollegen an meiner Universität –
wo sonst?) bedroht werden. Steinitz versucht, ein „Gesetz gegen Verrat“
durchzubringen, das an finstere Zeiten erinnert: Danach sollen solche vom
Gewissen getriebene Bürger verfolgt und für ihre Bemühung mit Gefängnis
bestraft werden.
Das ist mein Vaterland -
wo nicht ein Polizeibeamter unter den vielen, die in
demonstrierende palästinensischen Bürger hineinschossen, dreizehn töteten und
viele verwundeten, wo kein einziger von ihnen zur Rechenschaft gezogen wird und
vor Gericht kommt; nicht einmal für ein minderes Vergehen, geschweige denn
wegen gröberer Verstöße. Das, obwohl vor fünf Jahren eine sehr nachsichtige und
milde amtliche Untersuchungskommission das Polizeiverhalten bemängelt hatte.
Noch wird voraussichtlich einer der Soldaten vor Gericht kommen, die fast
täglich im Dorf Bil’in Demonstranten verletzen, Demonstranten gegen die
Trennmauer, die die Palästinenser auf der Westbank ins Elend treibt. Zur
gleichen Zeit sitzt eine junge Frau, Tali Fahima, für Monate im Gefängnis und
steht vor Gericht wegen mysteriöser Vorwürfe, die darauf hinaus laufen, sie
hätte als menschliches Schutzschild für einen Führer des palästinensischen
Widerstands in seinem Flüchtlingslager gedient, und zwar während der
berüchtigten Jenin-Operation, weil er als direkte Zielscheibe zur Tötung durch
die israelischen Sicherheitskräfte ausersehen war.
Das ist mein Vaterland -
wo das angebliche Leid der Siedler, die von den
Wohnstätten, dem Boden und den Wasserquellen evakuiert wurden, die zuvor
Palästinensern gestohlen worden waren, wo dieses angebliche Leid in allen
Medien dramatisch vorgeführt wird; während die Familien der Palästinenser, die
durch Terrorakte von Siedlern und ihren Unterstützern aus Protest gegen ihre
Evakuierung kaltblütig ermordet und verwundet wurden, kein Recht auf den
Schadenersatz haben, der Terroropfern zusteht. Denn der Buchstabe des Gesetzes
in meinem demokratischen Vaterland definiert einen Terrorakt als ein Verbrechen
gegen den Staat Israel, wobei jüdische Mörder per definitionem keine
Terroristen sind.
Das ist mein Vaterland -
wo ein leeres Gebäude, das von den Siedlern einer
evakuierten Siedlung als Synagoge genutzt worden war (und aus dem alle heiligen
Reliquien offiziell entfernt wurden) in einer Art heidnischer militärischen
Zeremonie dem Erdboden gleich gemacht wird; und wo gleichartige Gebäude,
entgegen der Empfehlung von Rabbinern, nicht zerstört wurden als Provokation
für Palästinenser nach der Evakuierung; Palästinenser, die keinen Grund sehen,
diese leeren Gebäude als heilige Stätten zu betrachten. Während die Verwüstung
beweint wird, die in der angeblichen Entweihung solch unheiliger Gebäude
bestehe, kann ich mich sehr gut an unseren Lieblingsspielplatz als kleine
Kinder erinnern, auf einem kleinen Hügel am Meer im Norden der Stadt, wo wir
kleinen Kinder zufällig einen Knochen auf dem Boden fanden: Unsere Eltern
nannten den Hügel „den moslemischen Friedhof“. Jahre später studierte ich an
einer Universität, die auf den Ruinen eines arabischen Dorfes namens Sheikh
Muanis stand. Versuche einer Frauengruppe namens Zochrot – „Erinnere dich“ auf
Hebräisch – an dieses Dorf zu erinnern, werden als subversiv diffamiert.
Das ist mein Vaterland -
eines, das sich rühmt, „die einzige Demokratie im Nahen
Osten zu sein“, aber dessen Premierminister erklärt, er werde die
demokratischen Wahlen zur Palästinensischen Autonomiebehörde sabotieren, weil
er sich über das Programm einer der zur Wahl stehenden Parteien (so anstößig
sie sein mag) ärgert.
Das ist mein Vaterland -
wo eine Universität, die Unterricht in Demokratie erteilt,
ein Militärstudium für Nachrichten-Offiziersanwärter in Uniform einrichtet, die
einen ganzen Abschnitt der Studentenwohnheime belegen (entgegen den
Bedürfnissen arabischer und benötigter jüdischer Studenten); die Wohnheime
werden sozusagen Kasernen (Sie haben richtig geraten: an meiner eigenen
Universität); während die gewählte arabische Studentenvertretung (sie vertritt
ungefähr 20% der Studenten) noch immer nicht anerkannt ist; während der Bitte,
Schilder in arabischer Sprache (einer amtlichen Sprache in Israel) auf dem
Campus anzubringen, noch immer nicht entsprochen wurde; während das Theater für
Aufführungen in Arabisch geschlossen wurde; und während verboten wurde, einen
Weihnachtsbaum neben einem Chanuka-Leuchter aufzustellen, als die beiden
religiösen Feiertage zusammen fielen. Stattdessen wurde aus dem schrumpfende
Budget eine private Anwaltskanzlei damit beauftragt, die gesetzlichen
Grundlagen dafür vorzubereiten, warum arabische Schilder nicht aufgestellt
werden; und dafür, eine neues Gerichtsurteil anzuzweifeln, das sich für die
Öffentlichkeit von Verfahren und gegen eine selektive Geheimhaltung aussprach
(sodaß dann der Leitung Immunität gewährt wird und sie weit entfernt vom
öffentlichen Einblick die Mitglieder der Fakultät los ist).
Das ist mein Vaterland -
wo der Ausdruck „ein Staat aller seiner Bürger“ von dessen
offizieller Regierung bedauert wird. Die „einzige Demokratie“ der Region
verbietet Schul-Curricula, weil sie (in kleinem Umfang) einige palästinensische
Autoren enthalten wie Edward Said, Azmi Bishara oder Mahmoud Darwish, aus
Furcht, die Vorstellung, Nicht-Juden könnten gleichberechtigte Bürger sein,
würde die Jugend verderben. Und schockiertes und bestürztes Aufschreien, wann
immer ein somit amtlich zur Ungleichheit zwischen den Bürgern erzogener
Jugendlicher zu Gewalt, ja zu Mord aus ethnischen oder religiösen Gründen
greift.
Das ist mein Vaterland -
Während die Evakuierung von ein paar Siedlern aus dem
besetzten Gaza-Streifen politisches Chaos verursacht und die Regierung, die
sich demokratisch dafür ausgesprochen hat, zu fallen droht, werden Millionen in
die Stärkung der Mehrheit der Siedllungen auf der besetzten West Bank gepumpt.
Die Regierung billigte nicht einmal die Beseitigung sporadischer „illegaler
Siedlungen“ (als ob es „legale“ gäbe), baute neue Straßen dort hin und schloß
sie an die Elektrizität an. Gerade vom obersten israelischen Gericht gebilligt,
trotz entgegengesetzter ausländischer Entscheidungen, wird eine Mauer des
Hasses errichtet, die palästinensische Dörfler von ihren Ländereien trennt,
Kinder von ihrer Schule, und jede Hoffnung auf dauerhaften Frieden von der
Wirklichkeit.
Das ist mein Vaterland, manchmal freundschaftlich ermahnt,
meistens freundlich getätschelt als eine aufgeklärte Demokratie im Nahen Osten.
Ich frage mich, ob das die Lektion in selektiver Demokratie ist, die die demokratische
Welt heutzutage den Nachbarländern meines Vaterlandes mit Gewalt erteilt.
Auf besssere Tage
gez. A. Oz
Professor Avraham Oz
Department of Hebrew and Comparative Literature
University of Haifa
Quelle: www.steinbergrecherche.com