Bernard Lazare
Einige Fragmente dieses Buches
("Der Antisemitismus. Seine Geschichte und seine Ursachen", 1894)
sind in längeren Abständen in Zeitungen und Zeitschriften erschienen; man hat
ihnen die große Ehre erwiesen, sie zu besprechen, und weil man sie besprochen
hat, schreibe ich hier diese paar Zeilen. Man hat mir zur gleichen Zeit
vorgeworfen, antisemitisch gewesen zu sein und die Juden zu lebhaft verteidigt
zu haben, und um das zu beurteilen, was ich geschrieben habe, hat man sich auf
den Standpunkt des Antisemitismus oder auf den des Philosemitismus gestellt.
Man war im Unrecht, denn ich bin weder Antisemit noch Philosemit; auch habe ich
weder eine Apologie noch eine Schmähschrift verfassen wollen, sondern eine
unparteiische Studie, eine Studie auf dem Gebiet der Geschichte und der
Soziologie. Ich billige den Antisemitismus nicht, er ist eine engstirnige,
mittelmäßige und unvollständige Konzeption, aber ich habe versucht, ihn zu
erklären. Er war nicht ohne Ursachen entstanden ‑ ich habe nach diesen
Ursachen gesucht. Ist es mir gelungen, sie beim Namen zu nennen? Das müssen
jene entscheiden, die diese Seiten lesen werden. Es schien mir, daß eine so
allgemein verbreitete Auffassung wie der Antisemitismus, die an allen Orten und
zu allen Zeiten in Blüte stand, vor und nach Christus, in Alexandrien, in Rom
und in Antiochien, in Arabien und in Persien, im Europa des Mittelalters und im
modernen Europa, mit einem Wort, in allen Teilen der Welt, wo es Juden gab oder
gibt, es schien mir, daß eine solche Auffassung nicht das Ergebnis einer
Phantasie und einer ewigen Laune sein könne, und daß es für sein Aufblühen und
seine Beständigkeit tiefgehende und ernstzunehmende Gründe geben müsse.
Anmerkung: Bernard Lazare wußte, wovon er schrieb; er wurde 1865 in Nimes
als Sohn einer jüdischen Familie geboren, die seit Jahrhunderten in Südfrankreich
ansässig war.