Judenmörder Heydrich
Es ist psychologisch nicht
unverständlich, daß gerade Heydrich der erbittertste Feind jenes Volkes war,
dem ein Teil seiner Vorfahren angehört hatte. Mit den Juden gedachte er
unbewußt auch den vermeintlichen Makel seiner Abstammung auszulöschen. Die Judenreferate
im Sicherheitsdienst und in der Geheimen Staatspolizei wurden nach seinen
besonderen Richtlinien organisiert, und die "Zentralstelle für jüdische
Auswanderung" war sein Werk. Die nationalsozialistische Führung dachte
zunächst, sei es aus außenpolitischen Rücksichten, sei es im Hinblick auf die
europäische Humanitätsidee, bekanntlich nicht daran, die Judenfrage durch physische
Vernichtung zu lösen. Die Auswanderung der Juden wurde daher nicht verhindert;
der ersten großen Auswanderungswelle nach der Machtergreifung folgte eine
zweite nach dem Anschluß Österreichs im Jahre 1938. Heydrich fand, daß diese
Auswanderung regellos und nach einem falschen System vor sich gehe. Der Weg ins
Ausland stand nämlich wegen der ungemein hohen staatlichen Gebühren nur der
kapitalskräftigen Schicht des Judentums offen, während die weitaus meisten
Juden in Deutschland, sofern sie nicht die Unterstützung ausländischer
Verwandter und Freunde oder jüdischer Organisationen genossen, im Lande bleiben
mußten. Es war nun Heydrichs Idee, den Juden die Massenauswanderung zu ermöglichen,
indem jedem zahlungskräftigen Juden auferlegt wurde, je nach der Größe seines
Vermögens eine Anzahl von besitzlosen Juden auf seine Kosten ins Ausland
mitzunehmen und vor allem die staatlichen Gebühren für sie zu bezahlen. Die
Organisation, deren Aufgabe die Durchführung dieses Prinzips war, war die Zentralstelle
für jüdische Auswanderung. Sie hatte die jüdische Auswanderung nicht zu hemmen,
wie es bisher die deutschen Behörden getan hatten, sondern zu fördern. Die
Auswanderungswilligen erhielten alle möglichen Erleichterungen, Dokumente,
Schiffsbilletts usw.; ihr Vermögen mußten sie allerdings zum größten Teil dem
Staate über lassen. Nach Heydrichs Organisationsplan hätten auf diese Weise bis
Ende 1941 alle Juden aus Deutschland, einschließlich des Protektorats Böhmen und
Mähren, außer Landes gebracht werden sollen. Der Ausbruch des zweiten
Weltkrieges schien diese Absicht zu durchkreuzen. Nach der Besetzung
Frankreichs aber griff Heydrich auf den alten Plan Napoleons zurück, die Juden
auf der Insel Madagaskar anzusiedeln. Er erreichte bei Hitler die Genehmigung,
in dieser Sache durch einen besonderen Beauftragten mit der französischen
Regierung in Vichy Fühlung aufzunehmen.
Aber die weitere Entwicklung
des Krieges machte auch diesen Plan zunichte. Als Heydrich nach dem Beginn des
Kampfes gegen die Sowjetunion feststellte, daß Hitler nunmehr tatsächlich
entschlossen war, das Judentum physisch zu vernichten, stellte er sein
organisatorisches Genie der Durchführung dieses furchtbaren Entschlusses zur
Verfügung. Er war es, der das Schema für die "Endlösung der Judenfrage"
konstruiert hat ‑ das dämonische Meisterstück dieses unübertrefflichen
Könners auf dem Gebiet der Verstellung und Tarnung. Heydrich ist der Erfinder
jener grauenvollen Maschinerie, die "in unauffälliger Weise"
Millionen von Menschen zu Tode brachte. Die Verschleierung der Prozedur gelang
so vollkommen, daß im deutschen Volk nur unbestimmte und unüberprüfbare
Gerüchte von den Judenvernichtungen umliefen, die zumeist nicht geglaubt
wurden. Selbst Leute, die vermöge ihrer Stellung sonst tiefen Einblick in die
Ereignisse hatten, durchschauten jahrelang nicht den Mechanismus der
Liquidation. Anfänglich hatten Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei im Osten
Massenerschießungen von Juden vorgenommen und der ehemalige Gauleiter von Wien
Odilo G 1 o b o c n i k hatte als Polizeichef von Lublin Massenmorde an Juden
durchgeführt. Der Schrecken und der Abscheu, der von diesen Massakern
ausgingen, konnten dem Regime Schwierigkeiten machen; es ist Heydrich selbst
gewesen, der bei Hitler die Ersetzung dieser "plumpen Methoden" durch
seine geräuschlose Vernichtungsmaschine erreichte.
Eine besonders teuflische
Nuance, die Heydrichs grenzenlose Bosheit und Menschenverachtung zeigt, war es,
daß ein Hauptprinzip seiner Organisation darin bestand, Juden durch Juden
vernichten zu lassen. Der ganze Apparat wurde weitgehend von Juden bedient,
unter der Aufsicht weniger Angehörigen von Heydrichs Sicherheitspolizei. Das
hatte den Vorteil, daß mit der fortschreitenden Liquidierung zuletzt auch der
größte Teil der Mitwisser aus der Welt geschafft werden konnte; Heydrich hat
gelegentlich mit Stolz darauf hingewiesen, daß er aus der ägyptischen Geschichte
gelernt habe: Auch im alten Ägypten habe man die Arbeiter, welche die
Pharaonengräber herstellten, samt und sonders umgebracht, um das Geheimnis zu
bewahren. Die jüdischen Kultusgemeinden in Berlin, Wien, Prag, Frankfurt am
Main und in zahlreichen anderen europäischen Großstädten mußten selbst ihre
Glaubensgenossen auswählen, die nach den polnischen Gettos verschickt werden
sollten. Nur ganz wenige wußten, daß es von dort nach den Vernichtungslagern
Auschwitz und Maidanek weiterging.
Die Organisation Heydrichs
funktionierte noch lange nach seinem Tod fast reibungslos. Der Plan der "Judenaussiedlung"
aus Ungarn, die im Frühjahr 1944 durch ein Abkommen zwischen der deutschen und
der ungarischen Regierung vereinbart worden war, trug noch ganz den Stempel der
Heydrichschen Methode. Die offizielle Lesart lautete, daß die Juden Ungarns in
die Gettos von Polen abtransportiert werden sollten. Man begann damit in der
ungarischen Provinz, um zu verhindern, daß die Juden Budapests, vorzeitig
gewarnt, dorthin flohen. Die ungarische Gendarmerie war für die
Gesamtdurchführung verantwortlich; aber die Zusammenstellung der Transporte
wurde dem jüdischen Ältestenrat aufgezwungen. Täglich gingen zwei
Zugsgarnituren mit je 2000 Juden nach Polen. Nicht einmal die Juden hatten eine
Ahnung davon, was für ein furchtbares Schicksal ihnen bevorstand.
Widerstandslos und ergeben marschierten sie zu vielen Hunderten in langen
Kolonnen. zu den Bahnhöfen und ließen sich verladen. Nur ganz wenige Gendarmen
führten dabei die Aufsicht; es wäre ein Leichtes gewesen, zu flüchten. In der
Karpato‑Ukraine, wo es die zahlenmäßig stärksten jüdischen Siedlungen
gab, hätten die schwerzugänglichen Berge und Wälder die Möglichkeit geboten,
sich lange versteckt zu halten. Aber nur wenige entzogen sich auf diese Weise
dem Verhängnis.
Den fertigbesetzten
Transportzug übernahm dann meistens ein deutscher Polizeioffizier, der nicht
wußte, was mit dem Transport schließlich geschehen sollte. Er hatte einen schriftlichen
Befehl, den Zug mit seiner kleinen Bewachungsmannschaft aus deutschen
Polizisten bis zu irgendeinem polnischen Bahnhof zu begleiten und dort einer
Ablösung zu übergeben. Gewöhnlich wurde der Eisenbahntransport knapp vor dem
angegebenen Ziel auf offener Stelle zum Halten veranlaßt und der Zugskommandant
wurde zur Übergabe an einen neuen Befehlshabenden aufgefordert. Auch die
Wachmannschaften wechselten, und dann verschwand die lange Elendsprozession der
Unglücklichen in den Wäldern, wo sich irgendein Außenlager von Auschwitz oder
Maidanek befand. Die Todesmühle erwartete sie. Der leere Zug aber wurde mit
seiner alten Transportbegleitung in die nächste Station gefahren, umrangiert und
nach Ungarn zurückgeleitet, ohne daß die Wachmannschaft erfahren hätte, was aus
den Menschen geworden war, die sie außer Landes gebracht hatte.
Quelle: "Die geheime Front - Organisation, Personen und Aktionen des
deutschen Geheimdienstes" von Walter Hagen, Stuttgart o. J. (1952?), S. 36
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