Bankrotterklärung
Ließe man sich aber einmal auf
das Experiment ein, Goldhagens ausschlaggebende Denkfigur: die »Erklärung« des
Massenmords aus dem »Charakter« eines Teils der Menschengattung, für eine
vergleichende Beurteilung zu verallgemeinern, endete man hoffnungslos in einer
fatalen Sackgasse.
‑ Sollten wir die türkischen Massaker an
Millionen von Armeniern nicht mehr mit Hilfe eines Bündels von sehr
unterschiedlichen Bedingungen und Motiven zu erklären versuchen, sondern gleich
aufgeben und es einem jungen armenischen Historiker überlassen, alles aus der jahrhundertealten
Tradition »osmanischer Schlächter« abzuleiten ‑ mit Folgerungen für den
Kurdenkrieg?
‑ Sollten wir den noch schrecklicheren,
jahrzehntelang anhaltenden millionenfachen Mord unter Lenins und Stalins Diktatur
nicht wenigstens aus unterschiedlichen Bedingungen und Motiven zu erklären
versuchen, sondern gleich aufgeben und es einem jungen ukrainischen Historiker
überlassen, alles aus der jahrhundertealten Tradition »russischen Barbarentums«
abzuleiten ‑ mit Folgerungen für den Tschetschenienkrieg?
‑ Sollten wir die nahezu vollendete Ausrottung
der nordamerikanischen Indianer nicht wenigstens aus sehr unterschiedlichen
Bedingungen und Motiven zu erklären versuchen, sondern gleich aufgeben und es
einem jungen Navajo‑Historiker überlassen, alles aus den Traditionen
»amerikanischen Killertums« seit der puritanischen Brandmarkung der rothäutigen
»Kinder des Satans« abzuleiten ‑ mit Folgerungen für My Lai?
Der Grenzen einer möglichst
rationalen Erklärung von Massenmord wird sich zwar jeder Historiker, jede
Historikerin schmerzhaft bewußt sein. Doch jener monokausale Erklärungsversuch
auf der Grundlage des dezisionistischen Aktes, einen Teil der Menschheit
aufgrund der ethnischen, rassistischen, naturalistischen, essentialistischen
Zuschreibung des permanenten Bösen zu stigmatisieren, ist eine intellektuelle,
methodische und politische Bankrotterklärung.
Quelle: Hans-Ulrich Wehler "Wie ein Stachel im Fleisch" in
Julius H. Schoeps (Hg.) "Ein Volk von Mördern? Die Dokumentation zur
Goldhagen-Kontroverse um die Rolle der Deutschen im Holocaust", Hamburg
1996, S. 203 f