Behandlung seelischer Krankheiten

 

Die Fürsorge für seelisch Kranke ist eine Pflicht, der sich kein Kulturstaat, der seinen Namen zu Recht trägt, entziehen kann. Um ihren Aufgaben nachkommen zu können, bedürfen die staatlichen und privaten Anstalten und Kliniken, die Beratungsstellen und Gesundheitsämter nicht nur tatkräftiger wirtschaftlicher Förderung seitens der öffentlichen Hand, sie müssen auch getragen werden von der Anteilnahme aller Volkskreise. Viele aus der Geschichte verständliche Vorurteile sind leider noch immer verbreitet und erschweren die Arbeit aller derjenigen, die ihre Lebensaufgabe darin erblicken, den unglücklichen Kranken zu helfen, sei es in praktischer Behandlung und Fürsorge, sei es in der Forschung.

 

Seelisch Kranke sind wirklich Kranke und bleiben immer (...) Menschen, die unter uns leben, ihr besonderes Dasein führen und ihre Probleme haben, die sich von denen der Gesunden oft kaum unterscheiden. Seelisch Kranke sind nicht nur unseres Mitleids bedürftig, weil unsere Kultur von christlich‑humanem Geist bestimmt ist; gerade im Scheitern ihrer Existenz zeigen sie uns manchmal in einzelnen großen Gestalten (z. B. HÖLDERLIN, NIETZSCHE, VAN GOGH, STRINDBERG) die Grenzsituationen, die uns selbst wieder hellsichtig machen für die Fragwürdigkeit des menschlichen Daseins. Jede seelische Abnormität ist eine Weise des Menschseins, vor der wir Respekt haben sollten, die uns gewiß schaudern macht vor den Abgründen, die dem Menschen stets drohen, die wir aber niemals verachten sollten.

 

Quelle: "Der Gesundheitsbrockhaus", herausgegeben von Prof. Dr. H. Mommsen-Frankfurt und der Lexikon-Redaktion des Verlages, Eberhard Brockhaus, Wiesbaden 1951, S. 638 f