Jede zweite Diagnose ist eine Fehldiagnose
Der Komplex
"Fehldiagnose" ist vielschichtig. Besonders häufige Fehlerquellen
sind (nach "Selecta"):
1. Symptomdiagnosen werden mit
Krankheitsdiagnosen verwechselt ("Rheuma", "Neuritis",
"Zephalgie", "Hyper‑ oder
Hypotonie", "Epilepsie").
2. Falsch verstandener Zwang
zu einer Diagnose führt dazu, an einer einmal gestellten Diagnose starr
festzuhalten. Ein Arzt, der sich nicht zu irren wagt, ist ein gefährlicher
Arzt.
3. Eine Diagnose wird einfach
übernommen, etwa weil sie von einer Autorität gestellt wurde.
4. Eine Fehldiagnose basiert
auf der vorausgehenden. Nach einer ungeklärten Kolik wird laparotomiert
und ‑ wiederholt sich die Kolik ‑ wegen "Werwachsungen"
relaparotomiert, bis man eine metabolische
oder toxische Ursache erkennt (diabetische Acidose, Porphyrie).
5. Beobachtungen, die nicht
lückenlos in die Diagnose passen, werden als Schönheitsfehler übersehen. Sie
müßten im Gegenteil ganz besonders beachtet werden.
6. Ein Einzelbefund wird
überbewertet, indem man ‑ vor allem in einem unklaren Fall ‑ die
Diagnose an ihm "aufhängt", um überhaupt eine zu haben.
Untersuchung
von Prof. Dr. Raué Schubert an der II. Medizinischen
Klinik der Städtischen Krankenanstalten Nürnberg: 45 Prozent aller Patienten,
die in Wirklichkeit an Lungenkrebs litten, waren von niedergelassenen Ärzten
mit einer falschen Diagnose an die Klinik überwiesen worden. Bei 10 Prozent
aller Lungenkrebspatienten war als Diagnose eine Herzkreislauferkrankung angegeben
worden.
"Selecta",
eines der führenden Ärzteblätter in der Bundesrepublik: "Hat man sich
einmal diagnostisch verrannt, können sich für den Patienten zwei Schäden
addieren: die Grundkrankheit bleibt unbehandelt; die eingeleitete falsche
Therapie verschlechtert die ursächliche Krankheit. So verbergen sich hinter der
Diagnose Ischias nicht selten in Wirklichkeit funktionelle Störungen oder
psychogene Fixierungen einmal durchgemachter Beschwerden. Folge können monate‑
und jahrelange ‑ nicht organisch bedingte ‑ Arbeitsunfähigkeit und
endlose Krankenhausaufenthalte sein, warnte der Nürnberger Neurologe Prof. Friedrich-Wilhelm
Bronisch, und das kommt leider nicht einmal allzu
selten vor ...
Weitere Verschleppungsgründe
bei den Ärzten: Sie behandelten zunächst einmal die Hälfte aller Magenkrebse
als "Gastritis", "nervöser Magen" oder "Ulkus"
monatelang ‑ bis zu 20 Jahren. Dabei wurden von 46 Magenkrebskranken 21
nicht einmal geröngt. Zwei Drittel aller Dickdarmkrebse
wurden behandelt als "Verstopfung" oder "Durchfall",
ebenfalls als "Ulkus" oder schlicht als "eingebildete
Krankheit". Ein Viertel von 161 Enddarmkrebsen behandelte man bis zu 3
Jahren als "Hämorrhoiden" und über die Hälfte aller Lungenkrebse
zunächst als "Bronchitis", "Grippe" oder
"Pneumonie".
Bei 61 Frauen zwischen dem 20.
und 35. Lebensjahr, die wegen eines Karzinoms operiert worden waren, wurde
nachträglich in zwölf Fällen ‑ das sind immerhin knapp 20 Prozent ‑
die Diagnose "gutartige Wucherung" gestellt. Von 635 Brustoperationen
wurde 270mal die Brust wegen eines Karzinoms amputiert, 365mal jedoch gutartige
Knoten (incl. Brust) entfernt.
Quelle: K. Blüchel "Die weißen
Magier'"