Der kranke Sigmund Freud

 

Sigmund Freud hat mehrmals biografisches Material gezielt vernichtet, hat immer wieder versucht, Spuren zu löschen, die ihn als Privatmenschen enttarnen könnten. Er hat seine Anhänger gezwungen, ihn allein mit seiner öffentlichen Existenz zu identifizieren. Am sichtbarsten wird die Verfremdung des Freud-Bildes an dem Tabu, das um seine Krebserkrankung errichtet worden ist und an dem bis heute niemand zu rühren wagte. Er rauchte 20 Zigarren am Tag und litt 16 Jahre lang an einem Mundhöhlenkarzinom. Es mutet aus heutiger Sicht befremdlich an, dass diese Tatsache weder von ihm selbst noch von seiner Mitwelt noch von seinen Biografen psychobiografisch gedeutet und in ihren lebensgeschichtlichen Zusammenhang gestellt wurde. Der Psychosomatiker und Krebsspezialist Kollbrunner ist der erste, der die offenkundige Tabuisierung als solche benennt und die naheliegende Frage stellt, welche Bedeutung diese Erkrankung für Freud und sein Werk hatte. "Als Teil der offiziellen Geschichtsschreibung der Psychoanalyse unersetzlich" (Frankfurter Rundschau). Jürg Kollbrunner "Der kranke Freud"

 

Quelle: "Zweitausendeins Merkheft 194", S. 150

 

 

FREUD, SIGMUND (1856‑1939)

Österreichischer Arzt, Begründer der Psychoanalyse

 

Sohn des Wollhändlers Jakob Freud, eines hageren, wortkargen, sorgenzermürbten Juden. Der "goldene Sigi" das Lieblingskind der jungen Mutter. Vater zum 2. Mal verheiratet, 20 Jahre älter als die Mutter. Auf dem Wiener Gymnasium fast schon verdächtige Musterknabenhaftigkeit und Lernbegierde. 6 Jahre hindurch Klassenprimus. Seit 1923 bösartige Geschwulst am Gaumen, wahrscheinlich als Folge seiner Raucherleidenschaft. In den letzten 16 Lebensjahren 33 Mundoperationen, die erste 1923. 1938 nach Durchsuchung seines Hauses in Wien Gelddiebstahl durch die SA. Mit 81 Jahren nach England, wollte erst nicht mit, verlor fast das gesamte Vermögen durch "Reichspflichtsteuer". "Ich kann die Gestapo jedermann empfehlen, S. Freud ", als Unterschrift unter Revers, anständig behandelt worden zu sein. GIOVANNI DALMA ("Freud e la Psicoanalisi", 1956)  erkennt im Lebenswerk Freuds dessen eigene, nicht überwindbare ambivalente Spannungstendenzen, die sich aus dem Konflikt mit dem Vater ergaben, sich jedoch hinter dem Bild eines nüchtern‑gleichmütigen Wissenschaftlers verbargen.

 

Quelle: "Genie, Irrsinn und Ruhm" von W. Lange-Eichbaum / W. Kurth, München / Basel 1967 / 1979, S. 362