Artikel 6 Absatz 2 des Grundgesetzes
„Die
Mutter ist das Kostbarste“
Familienexperte
Johannes Pechstein über Eva Herman, die Wiederentdeckung des Kindes und die
Rückkehr zur Familie
Prof. Dr. Johannes Pechstein
Der konservative Familienexperte, Kinderarzt und Kinderpsychiater war von 1971 bis 1993 Direktor des Kinderneurologischen
Zentrums des Landes Rheinland-Pfalz, Institut für Soziale
Pädiatrie. Er veröffentlichte zahlreiche Artikel unter anderem in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung, der Welt, Welt am Sonntag und dem Rheinischen Merkur. Für ihr Buch „Das
Eva-Prinzip“ (Pendo-Verlag,
2006) griff Eva Herman auch auf eine seiner Studien zurück. Heute engagiert sich Pechstein für das Familiennetzwerk „Familie ist Zukunft“.
Geboren wurde er 1930 in Dresden.
Herr Professor
Pechstein, das Buch von Eva Herman „Das Eva-Prinzip“ kommt in einem recht persönlichen, eigentlich
unpolitischen Tonfall daher.
Pechstein: Das
stimmt, allerdings täuscht dieser Eindruck. Das zeigt schon das hohe
öffentliche Interesse oder die Präsentation des
Buches ausgerechnet im Haus der Bundespressekonferenz.
Das zeigt aber auch das zwischenzeitliche
Mobbing durch die „feministischen
Zentralen“ mit dem Versuch, Frau Herman
beruflich mundtot zu machen. Das Buch
ist sogar hochpolitisch, weil es entscheidende Zukunftsfragen unserer Gesellschaft aufgreift und dabei die langfristigen Fehlentwicklungen der deutschen Politik gegenüber Kindern,
Müttern und Familien aufspießt, die neuerdings in der ideologisierten Verblendung eines Ganztags-Fremdbetreuungswahns vom Säuglings- bis zum Jugendalter
kulminieren, dem praktisch alle politischen Parteien mehr oder minder
verfallen sind.
Das Buch trifft also voll ins
Schwarze?
Pechstein; Die
Stärke des Buches liegt nicht nur in seinem allgemeinverständlichen Tonfall,
der die üblich gewordenen Begriffsverkleidungen durchbricht, etwa, wenn von
„Bildung“ gesprochen wird, wo eigentlich „Egalisierung“ gemeint ist. Die
schweigende Mehrheit im Volke wird hier sozusagen
„geweckt“ und läßt allenthalben achtzig
bis neunzig Prozent Zustimmung in einer
mit eigenen Ängsten, Schuldgefühlen und Verdrängungen besetzten
Binnenfrage ans „Ich“ erkennen: „Wie halte ich es mit einem Leben hinter der Fassade des Zeitgeistes, der die Vereinzelung junger Menschen
begünstigt und Alter nur ahnen läßt?“ Oder später: „Wie werde ich meinen
Kind oder meinen Kindern gerecht, jenseits
der Zwänge des materiellen
Überlebens der Familie, der Abhängigkeiten von Erwerbstätigkeit oder der
Verführung durch einen zeitweise erfüllenden Beruf?“
„Was
Herman sagt ist nicht neu, aber ihr hören die Leute zu“
Sie meinen, es gibt eine
schweigende Mehrheit im Volk, die einem anderen als dem „offiziellen“ Familienbild der Politik anhängt?
Pechstein: Dafür
gibt es viele untrügliche demoskopische Belege - und Indizien, wie etwa eben
die jüngsten Reaktionen auf das Buch von Eva
Herman. Vieles von dem, was sie sagt,
ist an sich nicht neu; Fachleute wie Theodor Hellbrügge,
Zdenek Matejcek in Prag, Emmy Werner in den USA,
Christa Meves, Bernhard und Helma Hassenstein
oder ich vertreten das schon lange. Aber
Frau Herman hören die Leute besser
zu. Sie ist eine sympathische junge Frau mittleren Alters, die einem
Millionenpublikum fast Tag für Tag über
lange Zeit hin vertraut war und uns ernsthaft in die Augen geblickt hat.
Mit ihr können sich die Menschen, vor allem auch die jüngeren, identifizieren; man hat sie als „neutrale“ Tagesschau-Sprecherin vorab vielleicht
schon ins Herz geschlossen. Nun öffnet sie sich unerwartet mit Privatem,
das einen mit eigenen Ängsten und Verdrängungen selbst zutiefst beunruhigt, bis hin zum Vermeidungsverhalten
gegenüber Kindern.
Alle Bundesregierungen der
letzten Jahrzehnte haben stets viel Hilfe für Kinder und Familien versprochen, mußten
aber mehrfach erst durch Urteile des Bundesverfassungsgerichts an ihre wahren Pflichten erinnert werden.
Pechstein: Die
Politik - bis hin zu Kinderrichtlinien der EU aus Brüssel - hat sich mit der
Absicht, eine möglichst weitgehend ganztätige
außerfamiliäre Betreuung der Kinder vom Säuglingsalter an einzurichten,
auf einen fundamentalen Irrweg begeben, der schon
in der untergegangenen DDR gescheitert ist. Besonders in letzter Zeit
wurde der „Ausbau der Betreuungseinrichtungen für Kinder aller Altersstufen“ in
nahezu allen Medien propagiert und als „Hilfe für die Eltern und speziell die
Frauen" dargestellt. Die ganz unterschiedlichen entwicklungsbiologischen
Besonderheiten, Ansprüche, Bedürfnisse und
Leistungskriterien der verschiedenen Altersstufen der Kinder wurden
dabei bagatellisiert und bis hin zur Beeinträchtigung des „Kindswohls“ grob mißachtet.
Zum Beispiel?
Pechstein: In der ersten Lebenszeit besteht für eine ungestörte Entwicklung
unverrückbar weiter die Notwendigkeit kontinuierlicher
Liebesbeziehung — Stichwort: Urvertrauen - und emotionaler Bindungserfahrung, auf denen praktisch alles spätere Lernen, Vieles vom Verhalten und die meisten
Fähigkeiten aufbauen. Die Politik hat sich in einer unglaublichen Ignoranz der grundfalschen Vorstellung hingegeben, Liebe sei gegenüber Wissensvermittlung nachrangig
- wie auch dem Irrtum, Liebe wäre delegierbar. Das Gegenteil gilt nach allen
Erkenntnissen der internationalen Deprivations- und Bindungsforschung. Ich hebe hier besonders die amerikanische Längsschnittstudie
von Emmy Werner und die einzigartige Lebenszeitstudie von Zdenek Matejcek hervor.
Widerspricht die Kinderpolitik
der Bundesregierungen
der letzten Dekaden eigentlich nicht dem
Geist des Grundgesetzes?
Pechstein:
Zumindest existiert eine Spannung
zwischen der derzeitigen Politik und der
Festlegung des Grundgesetzes. Dort wird die Erziehung der Kinder den Eltern als deren „natürliches Recht“ und
die „zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ zugewiesen. Was ist aber davon übrig, wenn Eltern und Kindern
in der täglichen Wachzeit bestenfalls noch
zwei Stunden Gemeinsamkeit verbleiben?
Auch die modernste Organisation, der
neue Machbarkeitswahn eines „social
engineering“ und die bestausgebildeten und liebenswürdigsten Erzieherinnen, sofern sie denn
in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen, können vor allem bei jungen Kindern
den grundlegenden Unterschied der Beziehung
zu den Eltern nicht wettmachen: daß
diese sich nämlich lebenslang mit dem Kind verbunden fühlen, daß sie ihr
ganzes weiteres Leben mit ihm teilen wollen. Entsprechend ernüchternde
Erfahrungen in den amerikanischen „daycare“-Einrich-tungen
führten bis zum Ausstieg führender Forschungspersönlichkeiten
wie Jay Belsky, als seine eigenen Kinder kamen. Und es sei außerdem
erwähnt, daß die Kommunen allein für einen
Krippenplatz 2.000 bis 2.500 Euro im Monat aufwenden müssen!
Machen Sie aber mit diesen
Äußerungen nicht den vielen Alleinerziehenden, denen nichts anderes übrigbleibt,
als außer Haus zu arbeiten, ein schweres Herz und schlechtes Gewissen?
Pechstein: Die Wahrheit kann nicht
verborgen werden, Krippen überhaupt und Kindergärten mit mehr als
Halbtagsbetrieb, bleiben vom Kind her
gesehen Nothilfe-Einrichtungen. Junge
Mütter, Eltern, insbesondere Alleinerziehende, dürfen hierüber nicht mit geschönter
Sprache im unklaren gelassen werden. Die Politik hat
mit allen Mitteln und im völligen Gegensatz zu den bisherigen falschen Intentionen und Fehlinformationen
für die betroffenen Kinder für einen Ausbau der innerfamiliären Betreuung und für elterliche Nähe zu sorgen. Schrittweise, aber
systematisch ist für eine zeitliche Zurücknahme
der Fremdbetreuungszeit auf eine Zahl von drei bis vier Stunden pro Tag
bei Kindern bis zur Vollendung des dritten
Lebensjahres und auf einen halben Tag bei Kindergartenkindern von vier bis
sechs Jahren sowie für die
gleichzeitige Sicherung des
Lebensunterhaltes gerade bei Einverdiener-Haushalten zu sorgen. Die
Wirtschaft sollte mit ihren Mitteln im Blick auf die Fähigkeiten ihrer künftigen Mitarbeiter die Mängel der
Familienpolitik von ihrer Seite her ausgleichen.
Dafür gibt es aber kaum
Anzeichen?
Pechstein: Es
ist tatsächlich schlimm zu lesen, wenn zum Beispiel Ludwig Georg Braun, der
Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, kürzlich im Rheinischen Merkur die Ansicht vertrat, möglichst
früh einsetzende und möglichst langwährende
Kinderbetreuung - sprich außerfamiliäre,
gleichaltrigenorientierte Fremdbetreuung - sei „gute Kinderbetreuung ...
gelungene Familienpolitik“, die angeblich familienfreundlich
die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf ermöglicht und dafür sorgt, daß „Eltern schneller an den
Arbeitsplatz zurückkehren können“. Für den Kinderarzt heißt das im Klartext: Leben auf Kosten der kommenden Generation.
Was fordern Sie also konkret?
Pechstein: Die Wirtschaft möge sich lieber auf die Organisation
ausreichender Freistellungszeiten von
Müttern - wenn gewollt auch Vätern -
konzentrieren, vor allem aber für das völlig ungelöste Problem der Nachausbildung von Eltern nach mehrjähriger Familienpause zur Rückkehr in den Beruf sorgen. Mütter insbesondere in den gehobenen Berufen
fühlen sich heute deklassiert und entmutigt,
wenn ihnen um die vierzig herum - aus
bloßer Unkenntnis der Personalchefs - mit ihren einzigartigen familiären
Organisations- und Kommunikationserfahrungen
ein Wiedereinstieg in den Beruf verwehrt wird. Das gilt für Fachkräfte im Krankenhaus nicht anders als für Juristinnen, Biologinnen, Ingenieurinnen
oder Wissenschaftlerinnen in der lebensstärksten und schöpferischten
Phase des individuellen Lebens. Individuelles
und familiäres Glück sind meist nicht durch Gleichzeitigkeit von Beruf
und Familie, sondern durch individuell gewählte andere Reihenfolgen zu
befördern.
„Das 20.
Jahrhundert hätte das Jahrhundert
der Mutter sein sollen"
Bereits im Mai veröffentlichte
Eva Herman einen
provozierenden Aufsatz in der Zeitschrift „Cicero“ zum Thema Feminismus.
Pechstein: Herman
hat nach meiner Ansicht darin nicht die Emanzipation als solche, sondern den
übersteigerten, starren unversöhnlichen Feminismus angegriffen. Gerade wir in
Deutschland dürfen ja wohl etwas stolz darauf sein, in der kulturellen Würdigung weiblicher Fähigkeiten in allen
Künsten, in der Entlassung aus Bevormundung in die Freiheit eigener Lebensziele der Frauen und auch in der rechtlichen Gleichstellung Vorreiter in Europa gewesen zu sein. Das Deutsche Reich war der erste Staat auf dem
Kontinent, der - im Jahre 1919 - das Frauenwahlrecht einführte, die Gleichberechtigung in vielen Lebensbereichen wurde kontinuierlich
gesteigert. Aber Gleichberechtigung heißt noch lange nicht, die nun einmal gegebenen biologischen, psychophysischen
Unterschiede zu negieren und sich in gegenseitiger, möglichst liebevoller
Abstimmung nicht auch arbeitsteilig zu verhalten. Die übersteigerten
Feministinnen meinen, der Unterschied
zwischen den Geschlechtern sei klein
und unbeachtlich, betreffe nur „die Fähigkeit
zu gebären“. Deshalb sollten Frauen alles tun, was Männer tun. Das ist
ignorant! Eva Herman hat dem widersprochen, und
dafür gibt es viele gute individuelle und überindividuelle Gründe.
Dann ist das Wort „Emanze"
zu Unrecht zum Schimpfwort
geworden?
Pechstein: Der Begriff wird in der Tat meist
falsch verstanden
und der Emanzipation anstatt dem
übersteigerten Feminismus vorgehalten. Emanzipation begann mit dem berechtigten Kampf um weibliche Freiheitsrechte.
Die schwedische Frauenrechtlerin Ellen Key war es, die das 20. Jahrhundert an
seinem Beginn zum „Jahrhundert des Kindes“ ausrief und der „Mütterlichkeit“ eine zentrale Funktion im gesellschaftlichen Ganzen
zuwies, weil „die Mutter der kostbarste Teil
des Volkes ist, so kostbar, daß die Gesellschaft
ihr eigenes höchstes Wohl befördert, wenn sie die mütterliche
Funktionen schützt. Und diese sind mit der
Geburt oder dem Nähren nicht
abgeschlossen, sie dauern während der
Erziehung fort. Ich glaube, daß in der neuen Gesellschaft, wo alle,
Frauen wie Männer, aber nicht Kinder, Kranke
und nicht Greise genötigt sein
werden zu arbeiten, man die Funktionen der Mutter als so wichtig für
das Ganze betrachten wird, daß jede Mutter ... einen Erziehungsbeitrag erhalten
wird, der sie ... von äußerer Arbeit für den Lebensunterhalt befreit.“
Demnach handelt es sich heim
Feminismus nicht um Emanzipation
im freiheitlichen Sinne, sondern um eine
radikale Ideologie?
Pechstein: Der
übersteigerte Feminismus entstand wesentlich durch die französische Schriftstellerin Simone de Beauvoir, die Mutterschaft
verachtete, die die „Knechtschaft der Frauen durch die Kinder“ beklagte. Sie
hauptsächlich erfand das kinderlose Frauenleben
als Ideal und damit die Philosophie einer
Gesellschaft zum Tode. Sie änderte die Frauenbewegung in jene fatale Richtung,
die zum heutigen Mißverständnis
von Emanzipation und Feminismus
geführt hat und den Müttern ihr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten
und Aufgaben sogar soweit nahm, daß nun ein
Aufschrei durch das Land geht, wenn eine Mutter mit einem Buch einen
Befreiungsschlag gegen diese Verirrungen wagt.
Wie gut, daß es inzwischen ein Netzwerk junger Mütter gibt wie etwa
„Familie ist Zukunft“, das zehntausendfach
öffentlich ausspricht: „Wir haben doch unsere Kinder nicht geboren,
damit sie von fremden Menschen aufgezogen
werden, und seien die noch so
freundlich und hilfreich gesonnen!“
Quelle: MORITZ SCHWARZ in JUNGE FREIHEIT vom 12. September
2006