Zeitsignaturen

 

(...) In Rußland wurde vor dem Ersten Weltkrieg die Diskre­panz zwischen dem persönlichen Eigentum und dessen ge­rechtem Gebrauch als besonders bedrohlich empfunden. Nun gab es natürlich eine solche Diskrepanz auch anders­wo, wie es denn überhaupt selten ist, daß die sehr Reichen auch die sehr Guten sind. Aber in Rußland litt man dar­unter mehr als anderswo. So sehr, daß »reich« und »böse« als gleichbedeutend empfunden wurden. Das ist gewiß primitiv, erreichte aber die Kraft einer Zeitsignatur. Alles Böse für die Menschen, alles Leid, alle Beschränkung auf ein biologisches Niveau, wurde auf diese eine Zeitsignatur zurückgeführt. Die Folge war jenes System, das auf der Vorstellung vom absoluten Segen des gemeinsamen Eigen­tums, unter Preisgabe der personalen Absolutheit, beruht und das seine geschichtliche Verwirklichung im Kommunis­mus fand.

Nach dem Ersten Weltkrieg gab es in Deutschland nur eine diffuse Gesellschaft, die gasig auseinanderstrebte und in welcher Gemeinsamkeit, geschweige denn Einigkeit, nicht zu finden war. Die Vorstellung, daß an diesem üblen Zustand der Gesellschaft deren Liberalität - und Liberalität überhaupt - schuld sei, wurde zur Zeitsignatur. Die Folge war jenes System, das auf der Wiederherstellung der Häuptlingswürde beruhte, unter Preisgabe der Entschei­dungsfreiheit und der Freiheit eigenen Denkens zugunsten des Befehles des Häuptlings. Seine geschichtliche Verwirk­lichung fand dies im Nationalsozialismus.

In Amerika hatte man sich lange Zeit von den Konflik­ten und Katastrophen ferngehalten, welche die Völker schüttelten, und war reich und mächtig geworden. Wohl­stand, vermehrt um die echt puritanische Vorstellung hier­von als von einem Verdienst, ist jene Zeitsignatur, durch welche Amerika bis heute beherrscht wird und deren ge­schichtliche Verwirklichung in dem Anspruch nach Missionierung, im Sinne plumper Nachahmung amerikanischer Verhältnisse, in allen Teilen der Welt sich kundtut.

Für unsere eigene Gesellschaft ist die Vorstellung, daß nur und ausschließlich eine möglichst ausgeweitete indu­strielle Produktion das Risiko des Daseins ausschalte, daß der Wohlstand eine Höherentwicklung des Menschen ver­bürge und daß der Besitz möglichst vieler Industriepro­dukte ein Lebensziel sei, zur Zeitsignatur geworden.

Hier erhebt sich eine in der Geschichte tatsächlich oft ge­stellte Frage. Wie konnte man in Rußland glauben, ein radikaler Kommunismus sei ein mögliches und gerechtes Prinzip, wenn dessen Installierung mit der Ausrottung des­sen zusammenfiel, was seit je das Herz dieses Landes aus­gemacht hatte: des russischen Bauern?

  Wie konnte man in Deutschland glauben, eine Volks­gemeinschaft zu verwirklichen durch ein Herrschafts­system, das das Recht, das Fundament jeder Gemeinschaft, mit Füßen trat und sich unterfing, jenes Volk auszurotten, das die stärkste Gemeinschaft war und ist, die es je als Volk gegeben hat, die Juden?

Wie konnte man jenseits des Ozeans hoffen, »Humanity« aufrechtzuerhalten oder gar zu vervollkommnen, wenn man sich nicht scheute, in der Bekämpfung von Systemen ganz die gleichen Methoden zu gebrauchen, wie jene Sy­steme selbst sie erdacht hatten; wenn man Atombomben warf und, um künftige Auseinandersetzungen vermeintlich besser führen zu können, die eigenen Leute darauf trai­nierte, Foltern besser zu ertragen?

Wie kann man in unserer Gesellschaft nicht sehen, daß die meisten Industrieprodukte billiger Krimskram sind, der dem Menschen nichts über die äußere Bequemlichkeit Hin­ausgehendes zu geben vermag, der ihn jedoch zu hekti­schen, selbstverzehrenden, sinnlosen Kraftanspannungen verleitet, um ihn schließlich ausgehöhlter und unbefriedig­ter, isolierter und kontaktärmer denn je zurückzulassen?

  Der Grund liegt darin, daß die Zeitsignatur nicht auf das Individuum als solches wirkt, nicht auf das Unverwechsel­bare in ihm, ähnlich wie ein kaltes Bad nicht auf ein be­stimmtes Organ wirkt und seine Wirkung deshalb immer die gleiche ist. Die Zeitsignatur wirkt vielmehr auf eine Instanz im Menschen, mittels derer er an einer Gruppe teil­nimmt, und die man deshalb Partizipialfunktion nennt. (...)

Quelle: „Psychologie – Modell und Wirklichkeit“ von Leo Dembicki, S. 179 - 181