Thema Vertreibung ist in Harvard heute noch ein Tabu

 

Prof. de Zayas zur Forschungsfreiheit und wissenschaftlichen Redlichkeit

 

Der DOD (Deutscher Ostdienst, d.B.) veröffentlicht nachstehend Auszüge aus der Rede des amerika­nischen Wissenschaftlers Prof. Alfred de Zayas anlässlich der Verleihung der Ehrengabe für Zeitgeschichtsforschung am 24. November (2001, d.B.) in Ingoldstadt, in der er sich mit Fragen des Zeitgeistes und der Beeinflussung der öffentlichen Meinung auseinandersetzt:

 

„Wissenschaftliche Redlichkeit kennt genauso wenig Frageverbote wie Denkver­bote. Der Forscher muss bohren, Fakten einordnen. Zusammenhänge erkennen, und sicherlich auch die notwendigen Ver­gleiche ziehen, um endlich der Wahrheit näher zu kommen, um - einfach gesagt - zu verstehen. Wie ein guter Arzt muss der Historiker oft unbequeme Fragen stellen. Und wie der Jurist muss auch der Histori­ker auf jenes universale Prinzip der Fairness achten: Audiatur et altera pars.

Er muss alle Seiten anhören, und seine Erkenntnisse nicht teleologisch erreichen und durch einseitige Argumentation be­gründen. Nur in totalitären und fundamentalistischen Staaten wird eine jeweilige politisch korrekte Interpretation der Ge­schichte als Dogma verkündet und durch Zwang aufrechterhalten. Allerdings wirkt in unseren abendländischen Gesellschaf­ten der Zeitgeist oft als Zensor und wird somit zu einer Gefahr für die freie For­schung und für den freien wissenschaftli­chen Diskurs.

Forschungsfreiheit setzt voraus, sich irren zu dürfen

Forschungsfreiheit setzt unter anderem auch die Möglichkeit, sogar das Recht, voraus, sich zu irren. Gerade weil wir ver­stehen wollen, müssen wir versuchen, das Geschehene durch neue Fragen und neue Perspektiven auszulegen. Und sollte sich der Historiker redlich irren, so ermöglicht die offene wissenschaftliche Debatte eine Selbstkorrektur.

Die Manipulationen der öffentlichen Meinung führen oft dazu, dass nur Teilas­pekte der Geschichte, vor allem der Zeit­geschichte, beleuchtet werden, dass schwarz-weiß Malerei betrieben wird, dass die ganze Aufmerksamkeit auf bloß ein Thema gelenkt wird.

Zeitgeist und Zensur gehen oft zusam­men. Totalitäre Staaten sorgen schnell für Gleichschaltung und offizielle Zensur. So darf der Historiker entweder nur Geneh­migtes schreiben oder sich als Samisdatsautor beschäfti­gen und muss mit Haft und Straf­sanktionen rech­nen. In offenen Gesellschaften gibt es keine offi­zielle    Zensur, sehr wohl aber andere Zwänge, wie der Histori­ker recht bald lernt,    denn    die Behandlung von bestimmten Themen ist nicht gesellschaftsfähig und kann negative berufliche Konsequenzen nach sich zie­hen.

In Amerika wie in Deutschland ist die selektive Geschichtsschreibung keine Aus­nahme, eher die Regel. Man beobachtet das Phänomen des Konformismus meis­tens dort, wo sich aktuelle politische Bezü­ge ergeben.

Vertreibung der Deutschen noch weniger als ein Stiefkind

der amerikanischen Historikerzunft

Für die amerikanische Zeitgeschichts­forschung ist die Vertreibung der Deut­schen sogar weniger als ein Stiefkind der amerikanischen Historikerzunft. Trotz­dem behaupten manche Vertreter der Zunft, es gebe keine Tabus, man habe im­mer frei über diese Themen forschen und veröffentlichen können, und viele hätten es getan.

Über die Vertreibung erfuhr ich selber - eigentlich zufällig - in einem Seminar über Kriegsvölkerrecht in der Harvard Law School - eben nicht in der Graduate School of Arts and Sciences, wo man das Thema eher erwartet hätte. Mein damali­ger Lehrer, später amerikanischer Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag, Professor Richard Baxter, empfahl mir diese Thematik als geeignet für die Dissertation.

Im Geschichtsseminar wurde darauf hingedeutet, das dies ein problematisches Thema sei. So erfuhr ich über den Oxford Historiker A.H.P. Tylor, der in der Histori­kerzukunft seinerzeit als politisch inkor­rekt empfunden wurde, weil er ständig un­liebsame Fragen stellte. Ich war also ge­wissermaßen gewarnt.

Heute noch bleibt die Thematik Vertrei­bung ein Harvard Tabu. Wie mir ein junger Harvard Historiker am 1. November dieses Jahres schrieb: „I am a recent graduate of Harvard University who is currently applying for a Fulbright Grant to study the experience of Germans in Silesia at the end of World War II. I read a copy of a presentation you gave on the expulsion of Germans by Soviet forces and was very intrigued. Like you, while I was at Harvard, sitting in history courses, I never heard mention of this experience in which millions of Ger­mans were moved an hundreds of thousands raped, tortured, or killed by a vengeful Red Army an later Polish authorities running work camps.” Ich könnte weiter lesen...

Was bedeutet abgestempelt sein?

Als ich Anfang der siebziger Jahre in Deutschland als Fulbright Stipendiat weil­te, erfuhr ich näheres über gefährliche Thesen und gefährliche Verleger. Forschen konnte ich damals - Gott sei Dank - wie ich wollte.

So konsultierte ich im Bundesarchiv Koblenz die 40.000 Erlebnisberichte über die Vertreibung, die seinerzeit vom Team Theodor Schieder/Hans Rothfels gesam­melt und ausgewertet worden waren, und später lernte ich die Arbeiten von Professor Maschke und seiner Historikerkommissi­on zur Kriegsgefangenengeschichte ken­nen. Seinerzeit waren die hellblauen Bän­de von Maschke noch im Giftschrank des Geschichtsseminars und nicht im Buch­handel erhältlich.

Mangelnder Mut wegen Karriereangst

Insgesamt wurden nur 450 Exemplare dieses Werkes gedruckt und nur wenige Wissenschaftler haben sie je konsultiert oder konsultieren wollen. Mir wurde von Professoren und Archivaren bedeutet, dass man sich in Acht nehmen musste, um nicht „abgestempelt“ zu werden. Als junger Forscher wusste ich noch nicht, was abge­stempelt eigentlich heißen sollte. Waren die freie Forschung und die offene wissen­schaftliche Debatte in einer demokrati­schen Gesellschaft nicht erwünscht, ja ge­rade gefordert?

Ich bedauere feststellen zu müssen, dass nur wenige amerikanische und deutsche
Wissenschaftler bereit sind, politisch heik­le Themen anzupacken, unter anderem
vielleicht deshalb, weil sie unter Karriere­angst leiden.“

 

Quelle: DOD Nr. 3 vom 18. Januar 2002 / S. 6