Wilhelm II.
Der letzte deutsche Kaiser in einem gerechteren Licht
Er prägte der wilhelminischen
Epoche den Namen auf, alle Geschichtsbücher schöpfen aus dem Repertoire des
"Wilhelminismus": der Kaiser hoch zu Roß bei der Truppenparade,
diplomatische Fauxpas ("Krüger‑Telegramm" 1896, Daily Telegraph‑Interview
1908), martialische Reden. Hoc volo, sic jubeo ‑ eine Lesefrucht aus den
Satiren Juvenals ‑, trug er 1901 in das Gästebuch der Stadt München ein.
Mit der satirischen Drohung: "Der Kaiser ist los!" amüsierte der
Simplizissimus schon 1910 sein bürgerlich‑liberales Publikum.
Nach dem Fall des Reiches
durch Niederlage und Revolution bedachte die Intelligenzija den im Exil zu
Doorn vereinsamten Ex‑Monarchen mit bissigen Nachrufen zu Lebzeiten, so
der Theaterkritiker Alfred Kerr: "Was man klar an ihm erkannt / War der
Mangel an Verstand. / Sonst besaß er alle Kräfte / Für die Leitung der
Geschäfte." Für die Historikerzunft, nicht nur für die linksliberalen,
scheint der Fall "Wilhelm II." seit der Biographie von John C. G.
Röhl wissenschaftlich erledigt. Fazit: Die "persönliche Monarchie" -
Röhls Abwandlung des "persönlichen Regiments" ‑ des letzten
Deutschen Kaisers war schuld an allem Unheil.
Doch was wäre die Historie
ohne das Salz des Revisionismus? Mit der vorliegenden Textsammlung nimmt der
Herausgeber Martin Kohlrausch Korrekturen am historischen Erscheinungsbild
Wilhelms II. vor. Die Abwertungen des Kaisers zu Zeiten der Weimarer Republik
speisten sich aus unterschiedlichen Quellen: Konservative, nicht wenige
Monarchisten, stützten ihr Negativurteil auf den 1921 veröffentlichten
Memoirenband der "Gedanken und Erinnerungen" Bismarcks. Darin kam der
alte Groll des Reichsgründers, der einst von Friedrichsruh aus spitze Pfeile in
Richtung Berlin gesandt hatte, über die Regierungskünste und die
Selbstherrlichkeit des jungen Monarchen zum Vorschein. Die liberale
Öffentlichkeit bezog ihr Kaiserbild aus der Biographie des Schriftstellers Emil
Ludwig, der seine in 200.000 Exemplaren verkaufte "psychologische"
Studie mit denunziatorischen Zeugnissen "aus erster Hand"
ausstattete.
"Samt und Stahl" ‑
der metaphorische Titel umschreibt die von Zeitgenossen oft konstatierte
Zwiespältigkeit der Persönlichkeit Wilhelms II. Diese Wahrnehmung entsprach
nicht dem Idealbild einer über allen Zweifel erhabenen Führernatur, an der
einerseits Wilhelm selbst Gefallen fand, wie sie andererseits die
"Öffentlichkeit", das heißt die Medien im anbrechenden Massenzeitalter
von einem "modernen Volkskaiser" erwarteten. In dem Buch sind
Zeitgenossen versammelt, die ‑ so der Herausgeber ‑ weder
"rechts" noch "links" einzuordnen sind.
Die Textsammlung beginnt mit
dem in der Frankfurter Zeitung nach
dem Tode Wilhelms (4. Juni 1941) erschienenen Gedenkartikel ‑ der
achtungsvolle Ton verrät die Distanz des anonymen Autors zum NS‑Regime ‑
und schließt mit den "Sein‑zum‑Herrschen" übertitelten
Tagebucheinträgen von Jean‑Paul Sartre. Dieser Auszug ‑ eine Melange
aus Sartres Lektüre Emil Ludwigs und seiner frühen Heidegger-Aneignung ‑
gehört zu den weniger überzeugenden Dokumenten. Er bricht zudem dort ab, wo
Sartre anhebt zu "versuchen, darüber nachzudenken", welche
"Verantwortung Wilhelm II. am Krieg von '14 trägt."
Am Ende des Großen Krieges und
in Versailles galt der Kaiser als Kriegsverbrecher. Lloyd George, der später zu
Adolf Hitler auf den Berghof pilgerte, wollte ihn kurzerhand erschießen lassen.
Nach Winston Churchill, der ihn 1937 in sein Buch "Great
Contemporaries" aufnahm, "sollte die Geschichte ( ... ) Wilhelm II.
von der Anklage, den Weltkrieg geplant und angezettelt zu haben,
freisprechen". Churchills demokratisch-überhebliches Verdammungsurteil
galt dem deutschen Volk "für seine Unterwürfigkeit unter den barbarischen
Gedanken der Selbstherrschaft". Als ob die westlichen Demokratien qua
besserer Institutionen und höherer Moral je gegen Logik und Versuchung der
Macht und des Krieges besser gefeit gewesen wären! Zudem: Churchill,
Hocharistokrat ohne Adelstitel, zielt mit seiner Kritik am Charakter der
Reichsverfassung vorbei. Diese befand sich längst auf dem Wege zur
Parlamentarisierung.
Die Inhaltsliste umfaßt Namen
wie Wilhelms Prinzenerzieher Otto Hinzpeter, Bismarck, Friedrich Naumann
("Unsere Fortschrittshoffnungen gründen sich mehr auf den Kaiser als auf
den Reichstag"), Ludwig Thoma (mit einer Glosse über die Kaiserreden),
Rudolf Borchardt, Walther Rathenau, Egon Friedell, Hans Blüher und andere. Zu
Recht decouvriert Kohlrausch die Pose des distanzierten Kritikers, die
Rathenau, selbst typischer Repräsentant des Zeitalters, in einer 1919
erschienenen Broschüre "Der Kaiser" einnahm. In Stil und Aussage über
einen "frühen Eindruck" offenbart Rathenau Charakterverwandtschaft
mit Wilhelm II.: "Ein Bezauberer und ein Gezeichneter. Eine zerrissene
Natur, die den Riß nicht spürt; er geht dem Verhängnis entgegen." Zum eigenen
Verhängnis gerieten ihm die angeblich bei Kriegsbeginn 1914 geäußerten Worte:
"Nie wird der Augenblick kommen, wo der Kaiser, als Sieger der Welt, mit
seinen Paladinen auf weißen Rossen durchs Brandenburger Tor reitet. An diesem
Tage hätte die Weltgeschichte ihren Sinn verloren. Nein! Nicht einer der
Großen, die in diesen Krieg ziehen, wird diesen Krieg überdauern." Die
Sätze dienten vor dem Rathenau‑Mord in den rechtsradikalen
Verschwörerkreisen als Beleg für "Verrat von Anfang an".
Das Negativurteil über den
Kaiser beruht bis heute auf der Hochachtung vor der diplomatischen Kunst
Bismarcks. Zum tieferen Verständnis jener weltpolitischen Konstellation, die
1914 in den "Selbstmord Europas" (Paul Ricoeur) mündete, könnte der
von Verehrung für den "Jungen Kaiser" getragene Essay Rudolf
Borchardts dienen. Vom Wohnsitz in der Toskana aus diagnostizierte er 1908 den
Wandel der Realität: "... das veraltete binneneuropäische Weltbild, auf
dem Bismarcks äußere Politik beruhte, (sei) durch ein neues politisches
Weltbild zu ersetzen, in dem Amerika, die Welt des Islam und der gelbe Orient
Faktoren waren und England unter einem neuen Standard figurierte". Der
Dichter irrte bezüglich der "vertrauensvollen Beziehung" des Kaisers
zum US-Präsidenten Theodore Roosevelt. Die Freundschaft war lange vor dem
Kriegseintritt der USA 1917 erkaltet.
Nicht alle Beiträge sind
Pflichtlektüre. Zu den großen Dokumenten zählt der Artikel "Abdankung des
Kaisers", den Theodor Wolff am 9. November 1918 veröffentlichte. Er
schrieb: "Nur diejenigen sollen ihn nicht anklagen, die Hurra gerufen
haben, als er ihnen 'herrliche Zeiten' und, im August 1914, die glanzvollsten
Siege versprach." Wilhelm wollte ein Friedenskaiser sein. Er war kein
Kriegstreiber.
Quelle: HERBERT AMMON in JUNGE FREIHEIT vom 15.9.2006 ("Dilemma
eines öffentlichen Kaisers")
Martin Kohlrausch (Hrsg.):
Samt und Stahl. Kaiser Wilhelm II. im Urteil seiner Zeitgenossen. Landt Verlag,
Berlin 2006, gebunden, 464 Seiten, 29,90 Euro
Anmerkung: Aus der Zitatensammlung von "luebeck-kunterbunt"
etwas "Kraut und Rüben"-mäßiges zu Wilhelm Zwo
1) "Heute bemüht man sich, dem letzten
deutschen Kaiser mehr Objektivität zukommen zu lassen, als es früher der Fall
war. So sieht KRACKE (KRACKE,
FRIEDRICH: "Prinz und Kaiser. Wilhelm II. im Urteil seiner Zeit",
Verlag Günter Olzog, München 1960) in Wilhelm II. den 'Spiegel des eigenen Volkscharakters'."
Wilhelm Lange-Eichbaum / Wolfram Kurth in "Genie, Irrsinn und
Ruhm", S. 555
2) "Die L (Straßburger Edelprostituierte
Emilie Klopp alias Miss Love) deutete an, dass in den Briefen (des Kronprinzen
Wilhelm) ganz eigentümliche Neigungen zur Komplikation des gewöhnlichen Coitus
bekundet wären, wie z. B. Zusammenbinden der Arme." Kaiser Wilhelm war
demzufolge ein Liebhaber ungewöhnlicher Praktiken, und die Bismarcks haben
davon gewusst.
DER SPIEGEL 22 / 2001 / 74
Anmerkung: Kaiser Wilhelm II. soll angeblich auch eine umfangreiche
Pornographie-Sammlung besessen haben.
3) "Macht und Freiheit,
Recht und Sitte / klarer Geist und scharfer Hieb, / zügeln dann aus starker
Mitte / jeder Selbstsucht wilden Trieb, / und es mag am deutschen Wesen /
einmal noch die Welt genesen."
Emanuel Geibel
- aus dem Gedicht "Deutschlands Beruf"
Anmerkung: Die
beiden letzten Zeilen werden oft böswillig Kaiser Wilhelm II. in den Mund
gelegt, als "Beweis" für seine angeblichen Weltherrschaftspläne.
Dabei stammt der Text von einem hochangesehenen patriotischen Lübecker Dichter,
dessen Vater - am Rande bemerkt - Prediger der reformierten Gemeinde und
Freimaurer war.
4) "Die Friedensliebe des deutschen Kaisers (Wilhelm II., d.V.)
bürgt uns dafür, daß wir den Zeitpunkt des Krieges selbst zu bestimmen haben
werden."
Sasonow - russischer Außenminister im November 1913
5) "Meine
(Harry Elmer Barnes) Ansicht, daß Rußland und Frankreich die Hauptschuldigen
(am Ausbruch des Ersten Weltkrieges) wären, teilte er nicht. Er (Kaiser Wilhelm
II.) betrachtete das internationale Judentum und die Freimaurer als die
Bösewichte des Jahres 1914; seiner Auffassung nach wollten sie die Auslöschung
der Nationalstaaten und des Christentums."
Harry Elmer
Barnes - einer der führenden amerikanischen Historiker in der Zeit zwischen den
Weltkriegen in: "Brainwashing", S. 13 u. 18