Weimarer Republik
Wie wurde Hitler möglich? War
die "Machtergreifung" der Nationalsozialisten unter den gegebenen
Bedingungen unvermeidlich?
(...)
Die Historiker sind sich heute
zumindest darin einig, daß das Scheitern der Republik und die
nationalsozialistische "Machtergreifung" nur plausibel erklärt werden
können durch die Aufhellung eines sehr komplexen Ursachengeflechts. Dabei sind
vor allem folgende Determinanten zu berücksichtigen: institutionelle
Rahmenbedingungen, etwa die verfassungsmäßigen Rechte und Möglichkeiten des
Reichspräsidenten zumal beim Fehlen klarer parlamentarischer Mehrheiten; die
ökonomische Entwicklung mit ihren Auswirkungen auf die politischen und
gesellschaftlichen Machtverhältnisse; Besonderheiten der politischen Kultur in
Deutschland (mitverantwortlich zum Beispiel für die Republikferne der Eliten,
die überwiegend der pluralistisch‑parteienstaatlichen Demokratie
ablehnend gegenüberstanden), Veränderungen im sozialen Gefüge, beispielsweise
Umschichtungen im "Mittelstand" mit Konsequenzen unter anderem für
politische Orientierung und Wahlverhalten mittelständischer Kreise;
ideologische Faktoren (autoritäre Traditionen in Deutschland; extremer
Nationalismus, verstärkt durch Kriegsniederlage, Dolchstoß‑Legende und
Kriegsunschuldspropaganda; "Führererwartung" und Hoffnung auf den
"starken Mann", wodurch einem charismatischen Führertum wie dem
Hitlers der Boden bereitet wurde); massenpsychologische Momente, zum Beispiel
Erfolgschancen einer massensuggestiven Propaganda infolge kollektiver
Entwurzelung und politischer Labilität breiter Bevölkerungssegmente;
schließlich die Rolle einzelner Persönlichkeiten an verantwortlicher Stelle, in
erster Linie zu nennen sind hier Hindenburg, Schleicher, Papen.
Die Antwort, die auf die Frage
nach dem Scheitern der Weimarer Demokratie und der Ermöglichung Hitlers gegeben
wird, hängt in ihrer Nuancierung wesentlich davon ab, wie die verschiedenen
Komponenten gewichtet und dann zu einem konsistenten Gesamtbild zusammengefügt
werden, denn Gewichtung und Verknüpfung sind nicht durch das Quellenmaterial in
einer schlechthin zwingenden Weise vorgegeben, sie bilden die eigentliche
Interpretationsleistung des Historikers.
(...)
Eberhard Kölb: Die Weimarer Republik. München 1993, S. 230 f
Seit Hindenburg 1925 erstmals
in das höchste Staatsamt gewählt worden war, gab es keine Gewähr mehr dafür,
daß der Reichspräsident sich im Ernstfall als Hüter des Geistes der Verfassung
erweisen würde. Die parlamentarische Demokratie zerbrach fünf Jahre später
daran, daß sie das Gros der Machteliten gegen sich und die demokratischen
Parteien nicht mehr entschieden hinter sich hatte. Die anschließende
Radikalisierung war eine zwangsläufige Reaktion auf die wirtschaftliche
Depression und die Verselbständigung der Exekutivgewalt. Nicht zwangsläufig war
die Machtübertragung an Hitler. Aber um die Katastrophe abzuwenden, die am 30.
Januar 1933 begann, hätte es eines tragfähigen antitotalitären Konsenses
zwischen der Präsidialmacht und der demokratischen Minderheit des Parlaments
bedurft. Daß es dieses Mindestmaß an Übereinstimmung nicht gab, hat den Weg für
Hitler frei gemacht. [ ... ]
Als Weimar in seine Endkrise
eintrat, hatte die Sozialdemokratie einen ihrer Partner aus der
parlamentarischen Gründungskoalition, den liberalen, [ ... ] bereits verloren.
Der andere Partner, das Zentrum, rückte immer mehr nach rechts und gab sich
schließlich der Illusion hin, es sei seine Mission, die Nationalsozialisten in
einer Koalition zu zähmen. Damit war die Isolierung der Sozialdemokraten
komplett. Wenn es eine Hauptursache für das Scheitern Weimars gibt, liegt sie
hier: Die Republik hatte ihren Rückhalt im Bürgertum weitgehend eingebüßt, und
ohne hinreichend starke bürgerliche Partner konnte der gemäßigte Flügel der
Arbeiterbewegung die Demokratie nicht retten.
Heinrich August Winkler: Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten
Deutschen Demokratie. München 1993, S. 609 f.
Woran ist also Weimar
gescheitert? Die Antwort ist nicht mit letzter wissenschaftlicher Präzision zu
geben, aber einiges läßt sich doch ausmachen: die wichtigsten Gründe liegen auf
dem Feld der Mentalitäten, der Einstellungen und des Denkens. In der Mitte des
Ursachenbündels finden sich eine Bevölkerungsmehrheit, die das politische
System von Weimar auf die Dauer nicht zu akzeptieren bereit war, sowie Parteien
und Verbände, die sich den Anforderungen des Parlamentarismus nicht gewachsen
zeigten. Die Ursachen für diese Defekte dürften überwiegend in langfristigen,
aus den besonderen Bedingungen der preußischdeutschen Geschichte zu erklärenden
Zusammenhängen zu suchen sein, verstärkt durch die Entstehungsbedingungen des
Weimarer Staatswesens und seiner außenpolitischen Belastungen. Die Übertragung
dieser ungünstigen Gruppenmentalitäten auf das Weimarer Regierungssystem wurde
durch den Wahlrechtsmodus erheblich begünstigt. [ ... ] Die
antirepublikanischen Tendenzen in Armee, Bürokratie und Justiz waren
grundsätzlich beherrschbar, eine Frage des Machtbewußtseins von Parteien und
Regierung. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen waren
hauptsächlich langfristig wirksam, indem sie auf die Mentalitäten von
Bevölkerung und einzelnen Gruppen einwirkten; aktuelle ökonomische Krisen verstärkten
die destabilisierenden Momente, verursachten sie aber nicht.
Lapidar läßt sich also
schließen: Bevölkerung, Gruppen, Parteien und einzelne Verantwortliche haben
das Experiment Weimar scheitern lassen, weil sie falsch dachten und deshalb
falsch handelten. [ ... ]
Hagen Schulze: Weimar. Deutschland 1917-1933. Berlin 1994, S. 425.
Der Untergang der Weimarer
Republik ist auf vier zerstörerische Prozesse zurückzuführen, die einzeln wohl
hätten gemeistert werden können:
0 Die Verengung der
Handlungsspielräume, deren die Ausgestaltung der Basiskompromisse bedurfte,
transformierte die sozioökonomische Strukturkrise zur Destabilisierung des
politischen und sozialen Systems der Republik.
0 Die sukzessive Zurücknahme
dieser Basiskompromisse trug darüber hinaus zum Legitimationsverlust der neuen
Ordnung bei. Schon vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise befand sich das
politische System der Republik in einer Krise, wie sich vor allem im
kontinuierlichen Anhängerschwund der bisherigen liberalen und konservativen
Parteien zeigte. Der Positionsverlust der rechten Mitte trieb diese in eine um
so schärfere Konfrontation mit der Sozialdemokratie, die selber wiederum durch
den kommunistischen Konkurrenzdruck in ihrer Handlungsfähigkeit blockiert
wurde.
0 Die Konzeption einer
autoritären Wende, die die Repräsentanten der alten Eliten Anfang der dreißiger
Jahre verfolgten, wollte die Basiskompromisse von 1918 ungeschehen machen und
die Machtverhältnisse des Bismarckreiches restaurieren. Die Präsidialkabinette
besaßen genügend Kraft, die verfassungsmäßige Ordnung zu zerstören, versagten
aber angesichts des hohen Grads von Politisierung und massenhafter
Mobilisierung, den die deutsche Öffentlichkeit inzwischen erreicht hatte.
Weder konnten sie das
Abdriften der bisherigen Mitte‑Rechts‑Wählerschaft zu den
Nationalsozialisten stoppen, noch konnten sie an eine dauerhafte Regierung ohne
Massenbasis denken.
0 Die nationalsozialistische Alternative
profitierte von diesem fundamentalen Autoritätsverlust der alten Eliten und
ihrer liberalen und konservativen Traditionsverbände gleich zweifach: Die NS‑Bewegung
konnte angesichts der Krise der Jahre 1930 bis 1933 die ganze Dynamik einer
modernen totalitären Integrationspartei entfalten; und sie konnte Anfang 1933
die Schlüssel zur Macht aus den Händen jener alten Eliten entgegennehmen, die
bei der Zerstörung der Republik nur allzu erfolgreich, zur Restaurierung der
Vorkriegszustände jedoch zu schwach gewesen waren. [ ... ]
Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen
Moderne, Frankfurt/M. 1987, S. 269 ff.
Quelle: "Informationen zur politischen Bildung" 261/4. Quartal
1998, S. 65