Waffen - SS
Tot ist auch Alfred, mein
Bruder. Als er 17 Jahre alt war und nach zehnjähriger umfassender staatlicher
Bemühung ein perfekt abgerundetes, fertiges, komplett indoktriniertes Produkt
Großdeutschlands, rannte er ‑ wie ich ein paar Jahre später ‑, um
Kriegsfreiwilliger sein und dem »Führer« dienen zu können, von einer
Wehrannahmestelle zur anderen. Er probierte es zunächst beim Heer, dann bei der
Luftwaffe, schließlich bei der Kriegsmarine, vergeblich. Dann meldete er sich
bei der Waffen‑SS, die ihn nahm. Mich widert an, wer ihn deshalb für
einen Kriegsverbrecher hält, der er nicht war. Er war ein mit diabolischer
Konsequenz in die Verblendung getriebener Soldat.
Alfred erfror sich in Rußland
die Füße, und zwar in einer Nacht, in der mir träumte, er sei tot. Seine
Fußstümpfe rochen widerwärtig süßlich, als Mutter und ich ‑ gerade in der
Lübecker Marlesgrube von den Briten »ausgebombt«, wie
man das nannte ‑ ihn in einem Lazarett im thüringischen Zeitz besuchten,
wo niemand lag, der noch alle Gliedmaßen besaß, auch niemand, der älter als
zwanzig Jahre war. Später wurde Alfred in ein Lazarett in Timmendorfer Strand
verlegt, in die Nähe von Lübeck, so daß ich ihn mit seinem Rollstuhl durch den
Kurpark schieben konnte, was ihn tief deprimierte. Er starb jung und schwer und
eine Ewigkeit lang unter offenkundig grauenhaften Schmerzen, die vom Personal
des Krankenhauses Ost in Lübeck tatenlos und mit kalter Routine beobachtet
wurden, an Nierenkrebs. Wie sehr ich ihn liebte, aber so ist das wohl mit den
Menschen, begriff ich erst, als ich ihm das nicht mehr sagen konnte.
Mutter
erlebte den Tod ihres Lieblingssohnes noch. Seither war sie, wenn das denn
möglich war, noch ein bißchen galliger und abweisender. Zu Alfreds Beerdigung
kam sie nicht ...
Quelle: "Hitler kam aus der Dankwartsgrube" von Rolf Winter,
1991