Völkisches Denken

 

Wir haben bereits ... bei der Betrachtung der kon­servativen Revolution und der Dichtung Hugo von Hofmanns­thals auf die völkische Bewegung als einen Zweig dieser Revo­lution hingewiesen, der mit der Vielfalt seiner Bestrebungen verwirrend wirkt und die traditionelle deutsche Gespaltenheit sehr einleuchtend vor Augen führt. Diese Wirrnis ruht weitge­hend auf logischen Unklarheiten, die sich mit dem Begriff „völ­kisch“ verbinden. Das Wort kommt schon im Alt-Angelsächsi­schen als „folcisc“ (= volkstümlich) und im Früh-Neuhochdeut­schen als „volckisch“ (= popularis) vor, seit dem 16. Jahrhun­dert mit Umlaut. 1811 wird es von J. G. Fichte aufgenommen und 1875 endgültig von dem Germanisten Pfister eingeführt. Seit etwa 1900 von Österreich her im Vordringen, wird der Be­griff „völkisch“, im Alldeutschen Verband etwa, als eine Verdeut­schung von „national“ gebraucht. Volk und Nation sind dabei aber durchaus zwei verschiedene Begriffe. Nun vertritt die deutsch-völkische Idee eine objektive Volkstheorie, nach der die Abstammung eines Menschen oder einer Gruppe über deren Volkszugehörigkeit entscheidet — während etwa die deutsche oder national-kulturelle Volksidee als subjektive Volkstheorie für die Volkszugehörigkeit im europäischen Kulturkreis die psychische Einstellung bestimmend sein läßt. Die Völkischen, die zugleich auch Antisemiten sind, setzen hier das Wort völ­kisch gleich mit dem Begriff der Rasse — was wissenschaftlich weder erlaubt noch korrekt ist, aber bei ihnen zusammenfallen muß, wenn ihr Begriff „völkisch“ einen Sinn haben soll. Nur wer dies bejaht, kann also wirklich ein Völkischer sein — und selbst dann ergeben sich noch viele Unklarheiten, wie die Betrachtung des völkischen Raumes erweist. Hinzu kommt das bei den Völkischen stark verankerte biologische Denken, das sie in einseitiger Betrachtung das Volk rein als ein Naturprodukt ansehen läßt — während schon der bekannte Historiker Hans Delbrück darauf hinweist, daß „das deutsche Volk weder im Namen noch in der Sache etwas Naturgegebenes ist, sondern ein Produkt der Geschichte (Hans Delbrück: „Weltgeschichte“, S. 571). Denn sehr wohl kann sich ein Volk auch fremd­stämmige Wesen assimilieren, was in der deutschen Geschichte im Übermaße geschehen ist (zur Demonstration nur eine Zahl: von den rd. 8000 Offizieren der preußischen Armee des Jahres 1807 waren 1000 französischer Abkunft und allein unter den höheren Stabsoffizieren 74 der Geburt nach Ausländer (zitiert nach „Minerva“, 4. Band, 1807). Mit diesem gesamten Fragenkomplex hat sich übrigens der jüdische Professor Dr. Julius Goldstein („Deutsche Volks-Idee und Deutsch-Völkische Idee“, 2. Aufl., Berlin 1928) auseinandergesetzt, und zwar als Antwort auf Wilhelm Stapels Buch „Antisemitismus“ (Ham­burg 1922, S.235 und 330). Mit der von den Völkischen behaup­teten Gleichstämmigkeit als Voraussetzung gleicher Gesinnung — was wiederum nicht den Tatsachen der Wissenschaft entspricht — setzt sich auch Brunhold Springer („Die Seele der Völkischen“, Berlin 1933) auseinander, der dabei viele Beispiele völkischer Führer fremder Herkunft bringt. Auch wir verweisen hier oft in unseren kurzen Lebensdarstellungen auf diese Herkunft und möchten z. B. vermerken, daß unter den Antisemiten nicht wenige jüdischer Abkunft zu finden sind — was also der völkischen Theorie durchaus zu widersprechen scheint. Aus den eigenen Untersuchungen des Verfassers über die führenden Nationalsozialisten sei hier nur mitgeteilt, daß sich unter 4.000 Männern der Reichsführung 120 Ausländer von Ge­burt befanden, viele mit einem oder zwei Elternteilen ausländi­scher Herkunft und ein Prozent sogar jüdischer Abkunft — also im Sinne der NS-Rassengesetze „untragbar“.

a) So rechnen zu den Auslandsgeborenen:

Reichsminister und Führerstellvertreter Rudolf Heß (Ägyp­ten); Reichsminister Darre (Argentinien); Gauleiter und Staatssekretär E. W. Bohle und der Reichskommissar Herzog von Sachsen-Coburg (England); Generaloberst Löhr (Jugo­slawien); General der Waffen-SS Phleps (Rumänien); Reichsärzteführer und Staatssekretär Dr. Conti und der Berliner Oberbürgermeister Lippert (Schweiz); NSKK-Obergruppenführer G. Wagener (Frankreich); sowie aus Rußland: Reichs­minister und Reichsleiter Alfred Rosenberg und NS-Reichshauptamtsleiter Brockhausen, Dr. von Renteln und Schickedanz, Reichsminister Backe, Präsident Dr. Neubert, Staats­rat Dr. Freiherr von Freytag-Loringhoven und Bischof J. Beer­mann.


b)     Darüber hinaus stammten von einem oder beiden ausländi­schen Elternteilen (u. v. a.):

Der Reichsjugendführer Baldur von Schirach, Generaloberst Rendulic, Botschafter von Papen sowie der Generaldirektor Gustav Krupp von Bohlen-Halbach.

c)     Selbst jüdischer Abkunft bzw. mit jüdischen Familien ver­wandt waren:

der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler, seine Stellver­treter, die Reichsminister Rudolf Heß und Reichsmarschall Hermann Göring; die Reichsleiter der NSDAP Gregor Stras­ser, Dr. Josef Goebbels, Alfred Rosenberg, Hans Frank und Heinrich Himmler; die Reichsminister von Ribbentrop (der mit dem berühmten Zionisten Chaim Weizmann), dem 1952 verstorbenen ersten Staatsoberhaupt von Israel, einst Brüderschaft getrunken hatte), Funk und von Keudell; die Gauleiter Globicznik (der Judenvernichter), Jordan und Wil­helm Kube; die hohen SS-Führer und z. T. in der Judenver­nichtung tätigen Reinhard Heydrich, Erich von dem Bach-Zelewski und von Keudell II; die Bankiers und alten Förderer Hitlers vor 1933 Ritter von Stauß (Vizepräsident des NS-Reichstages) und von Stein; der Generalfeldmarschall und Staatssekretär Milch, der Unterstaatssekretär Gauß; die Phy­siker und Alt-Pg.'s Philipp von Lenard und Abraham Esau; der Uralt-Pg. Hanffstaengel (NS-Auslandspressechef) und Prof. Haushofer.

Aus diesen Tatsachen, von denen manche Fakten umstritten sein mögen, ergibt sich die Brüchigkeit und Unklarheit der völ­kischen Theorie, mit deren Vertretern wir uns jetzt zu beschäf­tigen haben. Adolf Hitler hat die Schwäche des Völkischen früh erkannt, als er in einer Denkschrift aus dem Jahre 1922 mit dem Titel „Der völkische Gedanke und die Partei“ schrieb: „die ge­samte deutsch-völkische Bewegung sei unfruchtbar und wirkungs­los wegen ,ihres gänzlichen Mangels an Verständnis dafür, daß jede Idee wertlos ist, solange sie ihr Wollen nicht umsetzt in die Tat, sondern ewig Gedanke bleibt’.“ (...)

 

Quelle: „Bevor Hitler kam“ von Dietrich Bronder, 2. Aufl., Genf 1975, S. 209 – 211