Vertreibung ist Völkermord
Informationsdefizit und intellektuelle
Unredlichkeit
in Deutschland
Herr Professor de Zayas,
das Motto des Sudetendeutschen Tages lautete "Vertreibung ist Völkermord ‑
Dem Recht auf Heimat gehört die Zukunft" Der Historiker Martin Schulze
Wessel, Co‑Vorsitzender
der Deutsch‑ Tschechischen Historikerkommission, hat in der
"Süddeutschen Zeitung" dieses Motto als "aggressiv"
bezeichnet und die Charakterisierung der Vertreibung der Sudetendeutschen als
Völkermord eine Übertreibung genannt. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?
De Zayas: Nein. Herr Schulze Wessel ist Historiker.
Namhafte Völkerrechtler wie Felix Ermacora
und Dieter Blumenwitz haben begründet, weshalb die Vertreibung der
Sudetendeutschen als Völkermord einzustufen ist. Ich bin sowohl Historiker als
auch Völkerrechtler und habe 22 Jahre in der Uno zu Fragen der Menschenrechte und auch des Völkermords
gearbeitet. Ich teile das Urteil von Ermacora und
Blumenwitz. Man bedenke, daß die ethnischen Säuberungen im ehemaligen Jugoslawien
vom Internationalen Tribunal in Den Haag als Völkermord verurteilt worden sind.
Die Vertreibung der Deutschen war nachweislich härter und verlustreicher als
das Geschehen in Bosnien oder Kosovo.
Nun, wieso soll das sudetendeutsche Motto "aggressiv" sein?
Schulze Wessel argumentiert,
das Motto sei zu sehr auf die Vergangenheit fixiert.
De Zayas: Die Opfer eines Mega-Verbrechens, wie die Vertreibung es war, haben nicht
nur das Recht, sondern eigentlich eine moralische Verpflichtung, dieses
Verbrechen beim Namen zu nennen. Oder soll hier zwischen politisch korrekten
und politisch inkorrekten Opfern unterschieden werden? Die Sudetendeutschen
waren Opfer eines virulenten Rassismus, der bereits
viele Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg Tote
und Verletzte forderte. Die Vertreibung zwischen 1945 und 1948 forderte
vielleicht 200.000 Toten ‑ nicht nur durch die Ausschreitungen beim Brunner Todesmarsch und durch die vielen Massaker, sondern
auch durch die verheerenden Folgen der Vertreibung. Die Zerschlagung der mehr
als 700jährige Präsenz der Deutschen in Böhmen und Mähren war nicht nur eine
juristische, sondern auch eine historische und moralische Tragödie.
Nach Ansicht von Schulze Wessel
kann beim Holocaust und dem Vdlkermord an den
Armeniern zwischen Zwangstransfer und Genozid nichtgetrennt
werden. Dies triffi seiner Meinung nach aber nicht
auf das Schicksal der Sudetendeutschen zu.
De Zayas: Nach der Völkermordkonvention von 1948 ist die "Absicht"
das entscheidende Moment. Völkermord bedeutet also Handlungen, die in der Absicht begangen werden, "eine
nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder
teilweise zu zerstören". Die Benesch-Dekrete,
die Internierung Tausender Sudetendeutscher in Konzentrationslagern, der Raub des
Privateigentums und die Art und Weise der Durchführung der Vertreibung belegen
die Absicht Beneschs und der tschechoslowakischen
Regierung, die sudetendeutsche Volksgruppe zu zerstören. Wichtig dabei ist die
Tatsache, daß die gesamte Volksgruppe aus rassistischen Gründen vertrieben
wurde, also nur weil sie Deutsche waren. Um als Völkermord zu gelten, ist es
nicht nötig, daß alle Mitglieder der Gruppe massakriert werden. Auch nicht alle
Armenier, nicht alle Juden, nicht alle Tutsis wurden
ausgerottet.
Also können sich die Kritiker, die nicht in jeder Vertreibung einen
Völkermord sehen, nicht auf das Völkerrecht berufen?
De Zayas: Theoretisch ist nicht
jede Vertreibung zwangsläufig ein Völkermord. In der Praxis jedoch arten
Vertreibungen und ethnische Säuberungen in Völkermord aus. Darüber hinaus
stellt jede Vertreibung beziehungsweise jede zwangsweise Umsiedlung ein
Verbrechen gegen die Menschheit dar. Zuweilen bekommt man den Eindruck, daß die
Kritiker des Mottos meinen, wenn die Vertreibung nicht ganz Völkermord war,
dann war es nicht so "schlimm". Diese Art Bagatellisierung
des Verbrechens halte ich für
menschenverachtend. Immerhin verstößt jede Vertreibung gegen die Haager Landkriegsordnung von 1907 und gegen die Genfer Konvention
von 1949. Mit gutem Grunde werden Vertreibungen als Verbrechen gegen die
Menschheit im Artikel 7 und als Kriegsverbrechen im Artikel 8 des Rom‑Statuts des Internationalen Strafrechtstribunals
definiert.
Was besagt die Diskussion über den Informationsstand zur Vertreibung in
Deutschland?
De Zayas: In
Deutschland besteht nach wie vor ein Informationsdefizit. Noch schlimmer finde
ich aber die intellektuelle Unredlichkeit, die viele Politiker an denTag legen, leider auch Fachhistoriker und die Medien.
Man diffamiert sogar die Vertreibungsopfer als "Täter". Wir sollen uns
alle einig sein, daß die Menschenrechte und das Völkerrecht gleichermaßen für
alle Staaten und Völker gelten. Darum sind alle Staaten verpflichtet, die
Normen des Völkerrechts konsequent anzuwenden, ohne willkürliche Ausnahmen.
Ein Staat gefährdet die Rechtssicherheit und stellt die Glaubwürdigkeit der
völkerrechtlichen Rechtsordnung in Frage, wenn er zweierlei Maß anwendet.
Völkermord und Verbrechen gegen die Menschheit müssen stets verurteilt werden,
egal welche die Nationalität des Opfers ist. In meiner Heimat, den Vereinigten
Staaten, ist die Vertreibung weitestgehend unbekannt, sogar unter
Fachhistorikern. Die Goethe‑Institute sollten
eine Informationsstrategie entwickeln, um
dieses wichtige Kapitel der deutschen Geschichte auch im Ausland angemessen zu
behandeln. Schließlich ist es eine Frage der Menschen rechte.
Quelle: MARCUS SCHMIDT in JUNGE FREIHEIT vom
9.6.2006 ("Bewahren und überliefern")
Professor Dr. Alfred de Zayas
ist Völkerrechtler, ehemaliger Sekretär des Uno-Menschenrechtsausschusses und Autor der Bücher
"Die Nemesis von Potsdam" und "Heimatrecht ist Menschenrecht".
Zudem ist de Zayas derzeit Präsident des P.E.N.
Zentrums Suisse romande.
(Quelle wie oben)
Anmerkung: Es bedarf kaum noch einer besonderen
Hervorhebung, daß der Hauptverantwortliche für die ungeheuerlichen Verbrechen
an den Sudetendeutschen, der tschechische Staatspräsident Eduard Benesch Freimaurer war (Mitglied der Prager Loge "Pravda vitezi").