Verengtes Geschichtsbild
Dankrede vonThorsten Hinz
Als ich vor über zehn Jahren
für die JUNGE FREIHEIT zu schreiben begann, da ahnte ich nicht einmal zur
Hälfte, auf welches Abenteuer ich mich einließ. Nach der Wiedervereinigung war
für mich, aus der DDR kommend, dies das wichtigste: reisen zu können und die
Bücher und Zeitungen zu lesen, die ich wollte. Diese Freiheit genoß und genieße
ich in vollen Zügen ‑ und: kein Gesetz macht sie mir streitig. Dabei soll
es auch bleiben. Ich weiß also den Unterschied zu schätzen, der durch die Jahre
1989 und 1990 markiert wird. Gespannt war ich auch auf das politische Leben,
vor allem darauf, daß man endlich die Dinge öffentlich beim richtigen Namen
nennen durfte, denn schließlich kam ich aus einem Land, wo es eine unzensierte
Öffentlichkeit nicht gab, wo Lüge und Selbstbetrug die Grundlagen des
Politischen waren und das deshalb zu Recht untergegangen ist. Ich war nicht so
naiv zu glauben, man könne die Demokratie haben ohne Intrige, Machtmißbrauch
und Flunkereien, aber ich war mir doch sicher, am Ende stünde stets ein freies
Gespräch unter vernünftigen Menschen. Ich erlebte aber schnell, wie politische
Debatten durch Hysterieausbrüche ersetzt und verdorben wurden und mit ihnen die
Politik. Damals stieß ich auf die JUNGE FREIHEIT, die versuchte, diesen
Zusammenhang darzustellen. Das tut sie bis heute. Sie hat deswegen viel Haß und
sogar die Fürsorge des Verfassungsschutzes auf sich gezogen.
In einem Land, zu dessen Erbe
die Stasi gehört ‑ und es ist, wie wir wissen, ein gemeinsames Erbe, denn Spitzel gab es auch im Westen, und ich finde sogar: das waren die schlimmeren! ‑, in einem
solchen Land müßte eines selbstverständlich sein: Der Inlandsgeheimdienst soll
sich um die Bekämpfung von Terroristen kümmern, Zeitung lesen und sich eine
Meinung darüber bilden ist Sache freier Bürger. Merkwürdigerweise haben
Blätter, die sich liberal, also freiheitlich nennen, an dieser Praxis des
Verfassungsschutzes nichts zu bemängeln, im Gegenteil. Ich finde darin ein
Rudelverhalten wieder, wie es auch in der DDR als Ausweis guter staatsbürgerlicher
Gesinnung gefordert und gefördert wurde. Ich will keineswegs den Unterschied
verwischen: Damals drohte Gefängnis, heute gibt es, um zu überwachen und zu
strafen, soziale Mechanismen. Aber auch die sind alles andere als harmlos, sie
sind sehr wirksam, allerdings schwieriger nachzuweisen. ( ... )
Ich hatte anfangs gedacht, die
Aggressionen gegen die JUNGE FREIHEIT gingen auf ein Mißverständnis zurück, man
müsse nur den eigenen Standpunkt geduldig erläutern, ihn hier und da auch
zurücknehmen, dann würde alles sich aufklären. Es war eben mein Irrglaube, nur
in der DDR hätte es ein falsches gesellschaftliches Bewußtsein gegeben. Dort
war bekanntlich ein dogmatischer Marxismus‑Leninismus zur Staatsreligion
erhoben und von Scholastikern in eine ‑ vorgeblich ‑ wissenschaftliche
Politik überführt worden. Wo das endete, wissen wir. In der Bundesrepublik,
dachte ich, würde sich trotz aller Hindernisse am Ende doch die Vernunft
durchsetzen, das sei die zwingende Logik der Demokratie. Heute weiß ich, beide
deutsche Staaten haben eine verdorbene Mitgift in die ungleiche Ehe
eingebracht.
Auch deshalb ist die Erwartung
dumm und anmaßend gewesen, die Wiedervereinigung sei ein Prozeß, in dem der
kleinere Partner bruchlos im größeren aufginge. A plus B ist nicht A, sondern
ergeben ein Neues, ein C. Viele deutsch‑deutsche Spannungen erklären sich
daraus, daß die DDR-Bürger, kaum hatten sie den SED‑Staat zum Teufel
geschickt, schon wieder in einen ideologischen Käfig gesteckt werden sollten,
nun von den Berserkern der Vergangenheitsbewältiger, die vorher keinen einzigen
Gedanken an sie verschwendet hatten. Dagegen haben sie sich instinktiv
gesträubt, wie falsch und unbeholfen auch immer.
Ich habe festgestellt, daß man
über fast jedes wichtige Problem der Gegenwart nur angemessen schreiben kann,
wenn man gleichzeitig die Vergangenheit scharf in den Blick nimmt. Denn das
Herzstück des falschen Bewußtseins, an dem Deutschland letztlich krankt, ist
ein verengtes Geschichtsbild. Nicht die Verfassung ist unser Gefängnis, wie
jemand in dieser Zeitung einmal meinte, sondern eine stupide
Vergangenheitspolitik, die das Grundgesetz, das ein freiheitliches ist,
verhunzt.( ... )
Professor Zehm bildet, wie
alle hier wissen, die spirituelle Mitte der Zeitung und ist Lehrmeister für die
meisten Mitarbeiter. Seine freundlichen Worte bedeuten mir viel. Ich danke
Ihnen.
Quelle: JUNGE FREIHEIT vom 17./24. Dezember 2004 ("Verengtes
Geschichtsbild")