Ungeliebte Juden

 

Auf Initiative der polnischen Regierung beschloß das Parlament in Warschau Ende März 1938 ein Gesetz, das die Aberkennung der polnischen Staatsbürgerschaft für jene Bürger ermöglichte, die "sich ununterbrochen mindestens fünf Jahre nach Entstehung des polnischen Staates im Ausland aufgehalten und dadurch die Verbindung zum polnischen Staat verloren" haben. Was Verlust der "Verbindung zum polnischen Staat" konkret bedeutete, war dem Gesetz nicht zu entnehmen. So verschwommen diese Bestimmung erschien, so folgenschwer war sie für die im Ausland lebenden Juden polnischer Nationalität.

 

Anlaß für das im Eilverfahren verabschiedete Gesetz war die Annexion Österreichs durch das "Dritte Reich" am 13. März 1938. Die polnische Regierung befürchtete, daß etwa 20.000 größtenteils verarmte Juden nach Polen zurückkehren würden, um der drohenden Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen. Die in Warschau gehegten Hoffnungen, daß niemand in Berlin die tatsächliche Zielsetzung des Gesetzes durchschauen würde, erwiesen sich jedoch als Trugschluß. Das Auswärtige Amt erkannte sehr schnell, daß die polnische Regierung die Rückkehr der Juden in ihr Land verhindern wollte. Bereits im Mai 1938 ließ die deutsche Botschaft in Warschau das polnische Außenministerium wissen, daß der Besitz eines polnischen Passes hinreichender Beweis sei für die Bindung an den polnischen Staat. Deshalb dürfe "für alle Inhaber eines polnischen Passes das Entziehen der Staatsbürgerschaft auf der Grundlage des neuen Gesetzes nicht in Anwendung kommen.

 

Auf der Basis vornehmlich polnischer Quellen kann Jerzy Tomaszewski schlüssig nachweisen, daß das polnische Gesetz eine einseitige Aufkündigung verschiedener Bestimmungen der Friedensverträge von 1919 mit Deutschland und Österreich bedeutete. Unbeeindruckt von deutschen Gegenmaßnahmen, die unter anderem in einer Polizeiverordnung vom 22. August 1938 das Erlöschen der Aufenthaltsberechtigung im Reichsgebiet vorsahen, "wenn der Ausländer seine Staatsangehörigkeit wechselt oder verliert", verfügte das polnische Innenministerium Mitte Oktober 1938, daß jeder polnische Bürger, der sich außerhalb des Landes aufhalte, seinen Paß zur Registrierung bei dem für ihn zuständigen Konsulat vorlegen und darin einen Kontrollvermerk eintragen lassen müsse. Pässe, die diesen Vermerk nicht enthielten, verloren nach dem 29. Oktober ihre Gültigkeit und berechtigten nicht mehr zum Grenzübertritt nach Polen. Die überaus kurzfristige Terminierung sollte den weiteren Zustrom polnischer Juden aus Deutschland verhindern. Tomaszewski kommt zu dem Schluß, daß "der Verfasser dieses unglückseligen Erlasses im Innenministerium saß und sein einziges Ziel darin bestand, die Rückkehr von Menschen zu verhindern, die über keine Mittel zum Lebensunterhalt verfügen". Niemand habe sich über die internationalen Folgen dieser Entscheidung Gedanken gemacht.

 

Am 26. Oktober 1938 wies das Auswärtige Amt seinen Botschafter in Warschau an, im polnischen Außenministerium ein Aide-­mémoire zu überreichen, das auf ein Ultimatum hinauslief. Demnach sollten die in Deutschland befindlichen Juden polnischer Staatsangehörigkeit "vorsorglich sofort mit kürzester Frist aus dem Reich verwiesen werden". Die deutsche Regierung würde von Ausweisungen nur absehen können, wenn polnischerseits von der Verordnung vom 6. Oktober Abstand genommen oder eine bindende Erklärung abgegeben würde, daß Polen sich auch zur Übernahme von Inhabern polnischer Pässe ohne den Kontrollvermerk verpflichte.

 

Als Warschau auf diese ultimative For­derungen nicht einging, wurden am 28./29. Oktober 1938 etwa 17.000 Juden polni­scher Staatsangehörigkeit von den deut­schen Exekutivbehörden ausgewiesen und an die polnische Grenze deportiert. Unter den Deportierten befanden sich auch die Eltern und Geschwister von Herschel Grynspan, der 1938 illegal in Paris lebte. Sein aus politischen und persönlichen Um­ständen motiviertes Revolverattentat auf den Legationssekretär Ernst vom Rath am 7. November in der deutschen Botschaft in Paris, dem der deutsche Diplo­mat erlag, benutzten die Nationalsozialisten als Vorwand zu den reichsweiten Pogromen.