Gestern sprach ich
über die unmittelbare Verantwortung am Krieg. Hitler begann
blutige, militärische Operationen, Stalin half Hitler sie zu beginnen.
Diesmal nimmt die unmittelbare, sozusagen »juristische« Verantwortung für den Beginn
militärischer Aktivitäten eine klarere Form als im letzten Krieg an, Es ist
bekannt, daß die Frage der Verantwortung eine große Rolle in der Propaganda der
beiden kriegführendem Lager spielt. Jeder der an dem Krieg beteiligten Staaten
versucht, die Verantwortung auf den Feind zu schieben.
Vom historischen und
politischen Standpunkt aus ist dieses juristische (oder diplomatische)
Kriterium jedoch von völlig zweitrangiger Bedeutung. Es gibt progressive,
gerechte Kriege und reaktionäre, ungerechte Kriege, unabhängig von der Frage,
wer zuerst »angefangen« hat. Vom wissenschaftlichen, historischen Standpunkt
aus sind progressive, gerechte Kriege solche, die der Befreiung unterdrückter
Klassen oder unterdrückter Nationen dienen und so die menschliche Kultur
vorwärtstreiben. Andererseits sind jene Kriege reaktionär, die der Erhaltung
einer antiquierten sozialen Ordnung dienen, die der Versklavung der
Arbeiterklasse und der zurückgebliebenen oder schwachen Nationen dienen. Konsequenterweise
ist nicht die Frage, wer zuerst »angefangen« hat, wer als »Aggressor«
erscheint, von entscheidender Bedeutung, sondern die, welche Klasse den Krieg
führt und zugunsten welcher historischer Ziele. Wenn die unterdrückte Klasse
oder eine unterdrückte Nation mit dem Ziel ihrer Befreiung als »Aggressor«
erscheint, so werden wir eine solche Aggression immer befürworten.
Die Versuche, den
nächsten Krieg als einen Krieg zwischen Demokratien und Faschismus
darzustellen, zerbrachen am realen Gang der Ereignisse. Der gegenwärtige Krieg,
den die Beteiligten begannen, bevor sie den Versailler Vertrag unterzeichneten,
erwuchs aus den imperialistischen Widersprüchen. Er war unvermeidlich wie der
Zusammenstoß von Zügen, die auf demselben Gleis gegeneinander losgelassen
werden.
Die Hauptgegner auf
dem europäischen Kontinent sind Deutschland und Frankreich. Im Kampf um die
Hegemonie in Europa und seine kolonialen Besitzungen versuchte Frankreich,
Deutschland (nicht das faschistische, sondern das demokratische) in einem
Zustand der Zersplitterung und Schwäche zu halten. In diesem Sinne war der
französische Imperialismus der Geburtshelfer des deutschen Nationalsozialismus.
England hingegen, das daran interessiert war, die europäische Hegemonie von
Frankreich und seine internationalen Ansprüche zu brechen, begann bald nach
Versailles, Berlin gegen Paris zu unterstützen. Die Wiederbewaffnung von
Nazi-Deutschland wäre ohne die direkte Hilfe Englands unmöglich gewesen.
Auf diese Art waren die versteckten, aber tiefen Antagonismen zwischen den
Demokratien das Sprungbrett für Hitler.
England unterstützte
Hitler in München mit der Hoffnung, daß er sich mit Mitteleuropa zufrieden
geben würde. Aber einige Wochen später hatte England »endlich entdeckt« daß der
deutsche Imperialismus die Weltherrschaft anstrebte. In seiner Rolle als
Weltkolonialmacht konnte Großbritannien nicht umhin, die schrankenlosen
Ansprüche Hitlers mit Krieg zu beantworten.
Diplomatische
Machenschaften, die mit der Formel »Demokratie gegen Faschismus« jonglieren,
sind Sophismen zum Thema Verantwortung und können uns nicht vergessen lassen,
daß der Kampf zwischen den imperialistischen Sklavenhaltern der
verschiedenen Lager um eine Neuaufteilung der Welt geführt wird. Seinen
Zielen und Methoden nach ist der gegenwärtige Krieg eine direkte Fortsetzung
des vorangegangenen großen Krieges, nur mit viel größerer Fäulnis der
kapitalistischen Wirtschaft und mit viel schrecklicheren Methoden der
Zerstörung und Ausrottung.
Konsequenterweise sehe
ich daher nicht den geringsten Grund, jene Prinzipien in bezug auf den Krieg zu
ändern, die zwischen 1914 und 1917 von den besten Vertretern der
Arbeiterbewegung unter der Führung von Lenin ausgearbeitet wurden. Der
gegenwärtige Krieg hat auf beiden Seiten einen reaktionären Charakter. Welches
Lager auch immer siegen wird, die Menschheit wird weit zurückgeworfen werden.
Die Aufgabe der wahren
Vertreter der Arbeiterklasse und der unterdrückten Nationen besteht nicht
darin, einem imperialistischen Lager gegen ein anderes zu helfen, sondern
darin, die arbeitenden Massen aller Länder zu lehren, die reaktionäre Bedeutung
des gegenwärtigen Krieges zu verstehen, ihr eigenes Programm aufzustellen — die
Vereinigten Sozialistischen Staaten der Welt — und sich darauf
vorzubereiten, das Ausbeuterregime durch die Herrschaftsform der allgemeinen
Kooperation zu ersetzen.
Das ist das Programm
der IV. Internationale. Es erscheint den sogenannten Realisten, die die Logik
der historischen Entwicklung nicht verstehen, utopisch. Die IV. Internationale
umfaßt jetzt nur eine kleine Minderheit. Aber auch die Partei Lenins
repräsentierte zu Beginn des letzten Krieges eine unbedeutende Minderheit und
erntete nichts als Boshaftigkeiten von den billigen Maulhelden.
Der Krieg ist eine
harte Schule. In seinem Feuer werden die alten Vorurteile und
Sklavengewohnheiten ausgelöscht werden. Die Nationen werden aus diesem Krieg
anders herauskommen als sie hineingegangen sind und werden unseren Planeten
nach den Gesetzen der Vernunft wiederaufbauen. 5. September 1939
Quelle: »Socialist Appeal« vom 11. September 1939