Die Sickingen-Debatte
Ferdinand Lassalles Handschrift über die tragische Idee; Anlage zum Brief
Lassalles an Karl Marx vom 6. März 1859 (Auszug)
Über die formelle tragische
Idee, die ich dem Drama und seiner Katastrophe zugrunde legte - den tiefen
dialektischen Widerspruch, welcher der Natur alles Handelns, zumal des
revolutionären, innewohnt ‑ habe ich mich in dem, beim Allgemeinen
stehenbleibenden Vorwort natürlich nicht ausgesprochen und sie in der Tragödie
selbst erst im fünften Akt deutlicher hervortreten lassen.
Die ewige Stärke aller
herrschenden, eine bestehende Ordnung verteidigenden Klassen liegt in der nicht
zu täuschenden, durchgearbeiteten Bewußtheit, mit welcher sie ihr
Klasseninteresse, eben weil es ein bereits herrschendes, ausgearbeitetes ist,
durchdringt.
Die ewige Schwäche einer jeden
berechtigten revolutionären Idee, die sich zur Praxis kehren will, liegt in dem
Mangel an Bewußtheit seitens der Glieder der ihr zugetanen Klassen, deren
Prinzip noch nicht verwirklicht ist, sowie in dem hiermit zusammenhängenden
Mangel an Organisation der ihr zu Gebote stehenden Mittel. Der hierbei stets
wiederkehrende dialektische Widerspruch ist kurz folgender. Die Stärke der
Revolution besteht in ihrer Begeisterung,
diesem unmittelbaren Zutrauen der Idee in ihre eigene Kraft und
Unendlichkeit. Aber die Begeisterung ist ‑ als die unmittelbare Gewißheit von der Allmacht der Idee ‑ zunächst
ein abstraktes Hinwegsehen über die endlichen Mittel zur wirklichen Ausführung
und über die Schwierigkeiten der realen Verwicklung. Die Begeisterung muß sich
somit auf die reale Verwicklung und in eine Operation mit den endlichen Mitteln
einlassen, um in der endlichen Wirklichkeit ihre Zwecke zu erreichen. Sie
scheint sonst in ihrem Schwärmen für das Was? (‑ den Zweck ‑) die
reelle Seite des Wie?, der
Verwirklichung, zu übersehn.
Unter diesen Umständen scheint
es ein Triumph übergreifender realistischer Klugheit seitens der
Revolutionsführer, mit den gegebenen endlichen Mitteln zu rechnen, die wahren
und letzten Zwecke der Bewegung andern (und beiläufig eben dadurch häufig sogar
sich selbst) geheimzuhalten, und durch diese beabsichtigte Täuschung der
herrschenden Klassen, ja durch die Benützung dieser, die Möglichkeit zur
Organisation der neuen Kräfte zu gewinnen, um so durch dies klug erlangte Stück
Wirklichkeit die Wirklichkeit selbst dann zu besiegen.
In dieser unendlichen
realistischen Überlegenheit steht Sickingen im dritten Akte Hutten gegenüber
da, wie er denn übrigens ihm, als dem
bloß geistigen Revolutionär,
gegenüber die Überlegenheit des realistischen Blickes und des praktisch-politischen,
staatsmännischen Genius dauernd behält. Aber in diesem Sicheinlassen der
Begeisterung auf das Endliche, in dieser Unterordnung unter dasselbe, hat sie,
weit entfernt, sich auszuführen, vielmehr
grade ihr formelles Prinzip ‑ die Unendlichkeit der Idee ‑ aufgegeben, hat sich an ihr Gegenteil,
die Endlichkeit als solche, deren Aufhebung grade ihre Bedeutung ist,
hingegeben und muß daher hier unterliegen.
In der Tat, so schwer es dem
Verstande wird, dies einzugestehen, beinahe scheint es, als ob ein unlöslicher
Widerspruch zwischen der spekulativen Idee, welche die Kraft und Berechtigung
einer Revolution ausmacht, und dem endlichen Verstande und seiner Klugheit
bestünde. Die meisten Revolutionen, die gescheitert sind, sind ‑ jeder
wahrhafte Geschichtskenner wird dies zugeben müssen ‑ an dieser Klugheit
gescheitert, oder mindestens alle sind gescheitert, die sich auf diese Klugheit
gelegt haben. Die große Französische Revolution von 1792, die unter den
schwierigsten Umständen siegte, siegte nur dadurch, daß sie verstand, den
Verstand beiseite zu setzen.
Hierin liegt auch das
Geheimnis der Stärke der äußersten Parteien in den Revolutionen, hierin endlich
das Geheimnis, weshalb der Instinkt der Massen in den Revolutionen in der Regel
so viel richtiger ist als die Einsicht der Gebildeten. »Und was kein Verstand
der Verständigen sieht, das übet usw.« Grade der Mangel an Bildung, der den Massen innewohnt, bewahrt sie vor der
Klippe des klugverständigen Verfahrens.
Übrigens liegt in dem Gesagten
bereits die wirkliche Auflösung und die innere Notwendigkeit jenes dialektischen
Widerspruchs zwischen dem unendlichen Zweck der Idee und der endlichen Klugheit
der Vermittlung.
Denn 1.
ist, wie schon bemerkt, das Interesse der herrschenden Klassen, eben weil ihr
Prinzip das herrschende und also ein ganz ausgearbeitetes, bewußtes ist, ein nicht zu täuschendes. Individuen sind zu
täuschen, Klassen niemals!
2. Und
besonders gibt die Vermittlung, als Eingehen auf das Bestehende, und zwar ebenso wie bereits vorhin bemerkt, in
formeller Hinsicht, so auch eben deshalb in bezug auf den Inhalt, notwendig
mehr oder weniger ihr Prinzip auf,
also grade das, was die Kraft und Berechtigung der Revolutionen ausmacht,
stellt sich auf das Prinzip der Gegner und erklärt sich somit schon
theoretisch für geschlagen, so daß diese Selbstverurteilung nur noch an ihr zu
vollziehen ist. ‑ Ein Zweck kann, wie der alte Hegel so meisterhaft tief
ausgeführt und Aristoteles schon vor ihm zum Teil gewußt hat, nur dann durch
ein Mittel erreicht werden, wenn zuvor schon das Mittel selbst von der eigenen
Natur des Zweckes ganz und gar durchdrungen ist. Der Zweck muß im Mittel
selbst schon ausgeführt und verwirklicht sein und letzteres seine Natur an sich
tragen, wenn er durch das Mittel erreicht werden können soll (darum führt sich
der Zweck in der Hegelschen Logik nicht durch
das Mittel aus, sondern erweist sich vielmehr im Mittel selbst als ein
schon ausgeführter). Daher kann jeder Zweck nur durch das seiner eigenen
inneren Natur Entsprechende, und darum also können revolutionäre Zwecke nicht durch diplomatische Mittel erreicht werden.
Oder
3., realer gesprochen, kann man zuletzt Revolutionen nur mit den Massen und
ihrer leidenschaftlichen Hingebung machen. Die Massen aber, eben wegen ihrer sogenannten
»Roheit«, wegen ihres Mangels an Bildung, haben keinen Sinn für Vermittlungen,
interessieren sich nur ‑ denn jeder rohe Verstand ist extrem, kennt nur
ein Ja und ein Nein und keine Mitte zwischen beiden ‑ für das Extreme, Ganze,
Unmittelbare. Es muß also zuletzt kommen, daß solche Revolutionsrechner, statt
die getäuschten Feinde nicht vor sich und die Freunde hinter sich zu haben,
zuletzt umgekehrt die Feinde vor sich und die Anhänger ihres Prinzips nicht
hinter sich haben. Der scheinbar höchste Verstand hat sich so in der Tat als
höchster Unverstand erwiesen.
Es ist übrigens nur sehr
natürlich, daß, je mehr die Individuen Geltung und Position im Bestehenden,
Scharfblick, Klugheit und Bildung besitzen, sie um so leichter in den Fehler
dieser verhängnisvollen, sich realistisch dünkenden Verständigkeit verfallen
werden. Daher kommt es, daß zum Beispiel in der Französischen Revolution (und
in der großen englischen ist es analog gewesen) die abstrakten Idealisten, die
Jakobiner, das damals Mögliche und reell zu Geschehende besser trafen als die
mit ihrer Bildung, realistischem Blick und staatsmännischen Klugheit sich
brüstenden Girondins, die deshalb vom Volk ‑ in seinem Haß gegen diese
Staatsklugheit ‑ den sonderbaren Schimpfnamen les hommes d'etat bekamen. (...)