Schmisse im Gesicht
Dr. Ludwig Hahn - 230.000facher Mörder
(...) Dieser Dr. Ludwig Hahn,
64, wird von den Polen als der eigentliche Mörder von Warschau angesehen. Er,
der Volljurist, diente seit 1936 der Gestapo. Karrierestationen:
Einsatzkommandoführer in Gleiwitz und Kattowitz. Sicherheitspolizeikommandeur
in Krakau. Himmlers Beauftragter in Preßburg. Einsatzgruppenleiter in
Griechenland. Zum Schluß als SD‑Spezialist mit dem Auffangen
zurückflutender Truppen beschäftigt. Von 1941 bis 1944 herrschte er in Warschau
über eine etwa 600 Mann starke Dienststelle. Dort wurden während seiner Zeit
Hunderttausende in Vernichtungslager "umgesiedelt". Von den 1,4 Millionen
Einwohnern wurden 900.000 umgebracht und das Getto dem Erdboden gleichgemacht.
Hier steht nur ein Bruchteil seiner Taten zur Anklage. Vor allem die Verbrechen
im Pawiak‑Gefängnis. 100.000 Gefangene, die meisten Polen. 37 000 dort
ermordet, 60.000 in KZs; weitergeleitet. Das erklärt das starke Interesse, mit
dem die polnische Öffentlichkeit den Hamburger Prozeß verfolgt. (...)
(...) Hahn ist zutiefst
unsympathisch. Wüßte man nichts über ihn, würde man ihn sich trotzdem nicht zum
Vater, Großvater oder Vorgesetzten wünschen. Daß sein Familienleben so intakt
ist, wundert vielleicht nur mich. Eine Frau, die ihm die Treue hält. Vier
erwachsene Kinder in guten Berufen, gut verheiratet, gut erzogen. Und daß er
jetzt vor Gericht steht, nimmt seine Familie sicher nicht ihm übel, sondern dem
Staat.
Ist auch wahr. Wie kann man
einem gutgläubigen Mann so übel mitspielen! Sagt er doch: "Unter falschem Namen lebte ich nur die allerersten Jahre nach dem
Krieg. Solange die Gefahr einer Auslieferung bestand. Vor deutschen Gerichten hatte ich keine Angst."
Als ich daraufhin auflache, weil ich mir denken kann, wie wenig dieser wahre,
in der Öffentlichkeit ausgesprochene Satz dem Gericht paßt, werde ich vom
Vorsitzenden, auch öffentlich, gerügt. Auch
er, wie Hahn, ein Mann, dem Ordnung
und gutes Benehmen über alles gehen. Im Gang, unter Ausschluß der Öffentlichkeit,
bittet er mich dann um Verzeihung.
Hahn sieht aus wie eine
Mischung aus ausgelaugtem Kirchenvater und besonders miesem Baby. Der kleine
rosa Mund und die lange spitze Nase tief nach unten gezogen. Er hat etwas von
einer alten Frau an sich. Welke rosa
Haut. Ein durch Narben zerfetztes Rosa. Schmisse? Natürlich. Wo sollte er sonst auch Narben hernehmen?
Weißhaarig. Natürlich dezent. Ein alter Herr, der etwas langweilig erzählt. Ein
Ehrenmann mit phänomenalem Gedächtnis. (...)
(...) Bei einem so beliebten
Mann wie Hahn wundert es auch nicht, daß ein Hamburger Landgerichtsrat aus
Gefälligkeit dessen Versicherungsagentur weiterführte, als dieser in U-Haft
war. Und sollte noch mal jemand von der Härte deutscher Gerichte sprechen, muß
ich dem entgegenhalten, daß man Hahn Weihnachten 1967 trotz Fluchtverdachts
gegen nur 8000.‑ DM Kaution aus der Haft entließ. Das finde ich schön,
gerade zu Weihnachten, wo kein Deutscher gern im Gefängnis sitzt.
Daß man den Herrn Oberstaatsanwalt Kurt Tegge, der jahrelang unermüdlich
am entschiedensten alles tat, um die NS‑Beschuldigten vor Gericht zu
bringen, absägte und stattdessen den jungen Ankläger Grosse zum
Oberstaatsanwalt und Leiter des NS‑Dezernats beförderte, wird sicher auch
seine Gründe gehabt haben. Denn dieser Beförderung ging ein einmaliger Vorgang
in der deutschen Rechtsgeschichte voran. Zwölf Staatsanwälte des Hamburger NS‑Dezernats
hatten sich in einem Schreiben an Justizsenator Heinsen wegen grober Mängel und
Unrichtigkeiten von der Anklageschrift ihres Kollegen, Dr. Erwin Grosse,
distanziert. (...)
Mai
1972
P. S.
Hahn wurde zu 12 Jahren
verurteilt. Und bekam tatsächlich Haftverschonung.
Erst später, am 4. Juli 1975,
nachdem aufgrund weiterer Taten noch ein Verfahren gegen ihn stattgefunden
hatte, hatte er Pech.
Der Vorsitzende Richter, Dr.
Jürgen Schenck, sagte nicht nur: "Der Angeklagte Dr. Hahn wird wegen gemeinschaftlichen
Mordes, begangen an mindestens 230.000 Menschen, zu lebenslanger
Freiheitsstrafe verurteilt", nein er nahm ihn auch fest.
Im Knast arbeitet Hahn
allerdings nicht in der Wäscherei oder so, sondern im Staatsarchiv, wie mehrere
seiner NS‑Kollegen auch. Dort übersetzt er aus dem Lateinischen ins
Deutsche.
Quelle: "Prozesse 1970 bis 1978" von
Peggy Parnass, Frankfurt/M 1978, S. 209 + 211 + 215f + 220