Säuberung der Justiz
Ein anderer Fehler (neben der
Autonomie der Reichswehr) war das Versäumnis, die Justiz zu säubern. Die
Justizverwaltung wurde eines der Zentren der Gegenrevolution. Richter legten
das Recht zugunsten reaktionärer politischer Zwecke aus. »Man kann sich
unmöglich der Schlufgfolgerung entziehen«, schreibt der Historiker Franz L.
Neumann, »daß die politische Rechtsprechung eine der schwärzesten Seiten im Buche
der deutschen Republik ist.« Nach dem Kapp-Putsch vom Jahre 1920 leitete die
Regierung ein Hochverratsverfahren gegen 705 Personen ein; nur einer, der
Polizeipräsident von Berlin, wurde verurteilt ‑ zu fünf Jahren »Festung«.
Als der preußische Staat ihm seine Pension entzog, entschied das Reichsgericht
in entgegengesetztem Sinne. Im Dezember 1926 wurde General von Lüttwitz, dem
militärischen Führer des Kapp‑Putsches, von einem deutschen Gericht die
Nachzahlung seiner Pension nicht allein für die Zeit, in der er sich gegen die
Regierung erhoben hatte, sondern auch für die fünf Jahre zuerkannt, die er,
einem Gerichtsverfahren sich entziehend, in Ungarn zugebracht hatte.
Dagegen
wurden Hunderte von liberalen Deutschen wegen Hochverrats zu langjährigen Gefängnisstrafen
verurteilt, weil sie in der Presse oder in öffentlicher Rede die fortgesetzten
Verstöße der Reichswehr gegen den Versailler Vertrag enthüllt oder angeprangert
hatten. Der Hochverratsparagraph fand rücksichtslose Anwendung auf Anhänger der
Republik, während Leute der Rechten, die die Republik zu stürzen versuchten,
entweder frei ausgingen oder mit leichtesten Strafen davonkamen, wie zum
Beispiel Adolf Hitler. Selbst Attentäter, wenn sie der Rechten angehörten und
ihre Opfer Demokraten waren, wurden von den Gerichten milde behandelt. Häufig
kam es auch vor, daß ihnen Reichswehroffiziere oder Rechtsradikale zur Flucht
aus der Haft verhalfen.
Quelle: "Aufstieg und Fall des Dritten
Reiches" von William L. Shirer, S. 59 f