Die SPD ist tot

 

Schrift von Dr. Julius Leber - 1933 in der Haft verfaßt

 

Die deutsche Sozialdemokratie als Tatsache, als Organisation ist tot. Ob sie es auch als Glaube und Erziehung deutscher Arbeiter ist, mag die Zukunft entscheiden. Als Idee lebt sie schon lange nicht mehr.

 

Die Sozialdemokratische Partei war zur Zeit der Machtübernahme im Jahre 1918 innerlich schon alt. Das war ein großes Verhängnis. Der Machtbesitz mit seinen Kämpfen und Aufgaben neuer Art brachte weder neues Leben noch geistige Erneuerung. Der Prozeß des inneren und äußeren Alterns ging im Gegenteil ungehemmt und unaufhaltsam weiter. Das wurde zum größeren Verhängnis, nicht nur für die sozialistische Bewegung, sondern vor allen Dingen für die mit ihr tatsächlich und noch mehr moralisch verbundene Republik von Weimar. Denn niemals spürte diese Republik einen Hauch revolutionärer Kraft, Begeisterung und Erfüllung. Sie war schon tot, als sie zaghaft und sehr vernunftgemäß ihre endgültige Geburt anzeigte.

 

In Frankreich ging einst das Wort um, die Revolution fresse ihre besten Kinder selbst. Auf die deutsche Revolution von 1918 paßt dieses Wort nicht. Sie nährte ihre Kinder und ließ sie endlos leben, worüber diese Kinder nicht einmal erstaunt waren. Sie nahmen es hin als eine sehr angenehme, beinahe gottgewollte Selbstverständlichkeit. Kritik reichte deshalb nicht im geringsten an sie heran, und Selbstkritik kam schon gar nicht in Frage. Überheblichkeit des Alters, die nichts mehr will und nichts mehr träumt, spiegelte sich mißtrauisch und fremd im Strom einer stürmischen Entwicklung, die von Strudel zu Strudel eilte und schließlich die Gefahren gewaltigster Dammbrüche herbeiführte.

 


Man schwamm nicht mit dem Strom, man schwamm auch nicht dagegen. Man stand erstaunt und hilflos am Ufer. Und als der Damm brach und das Ufer versank, da gab es nur noch einen Ausweg: Die kopflose Flucht. Rette sich, wer kann!

 

Mancher wird dieses Urteil scharf finden. Es kann nicht scharf genug sein. Denn nur rücksichtsloseste Offenheit und schonungsloses Aufdecken der inneren Tatsachen können einige Erklärung schaffen für die größte politische Tragödie Deutschlands seit der Religionsspaltung zu Ende des Mittelalters.

 

Die Partei Bebels, einst geboren und unerschütterlich getragen in den Instinkten und im Glauben der unbekannten und namenlosen Masse des deutschen Volkes, hat im Laufe ihrer Zeit ihre Verbindung mit dieser Urkraft und ihren Stimmungen und Strömungen fast ganz verloren. Sie wußte zuletzt nichts mehr von den Träumen und triebhaften Leidenschaften in der unendlichen Tiefe von Millionen, viel mächtiger als alle Worte und Lehren, als alle Symbole und Programmpunkte. Sie wußte nichts mehr von den grenzenlosen Wunschträumen der eigenen trostlosen Jugend. Sie redete von der Geschichte und ihren Lehren, sie redete von den gesellschaftlichen Entwicklungsgesetzen, sie redete und debattierte über die verschlungenen Pfade des wissenschaftlichen Sozialismus und des historischen Materialismus, sie verkündete den Marxismus als Wissenschaft für alle und jeden und riß ihn dadurch aus den Höhen und den Grenzen seiner Gültigkeit. Alles das geschah unter der bestechenden Parole: Wissen ist Macht! Und man vergaß und man ließ vor allein die Jugend völlig vergessen, daß Macht niemals von Wissen kommt und lebt, sondern vom Willen. Nur der harte Wille schafft, herrscht und will herrschen, Wissen allein aber macht müde und edel.

 

In dieser stickigen Luft einer banalen und selbstgefälligen Wissenschaftlichkeit, die für alle Schwierigkeiten des sozialen Geschehens irgendwelche marxistischen Theorien zum bequemen und hirnberuhigenden Hausgebrauch je nach Bedarf bereitstellte, wuchs eine Führergeneration heran, die der wirklichen Problematik der gewaltig sich ankündigenden Entwicklung fern stand und nicht im geringsten geladen war von jener Gier nach politischer Verantwortung und Gestaltung, die nur aus dem Willen und der Kraft der Persönlichkeit entsteht.

 

Die letzten großen Sozialistenkongresse der Vorkriegszeit verrieten diese Entwicklung und die damit verbundene Blindheit für die mächtig sich gestaltenden neuen Dinge schon einer breiteren Öffentlichkeit. Die Kriegszeit selbst aber, trotz des Halbdunkels der verschlossenen Beratungszimmer und mancher zwangsläufigen Entscheidung, enthüllte schonungslos das Unvermögen der sozialdemokratischen Führung, die heraufziehende und in Wirklichkeit am 4. August 1914 begonnene Umwälzung und Revolutionierung zu begreifen oder gar zu gestalten. Ihre Entschlüsse waren, wie man sehen wird, Verlegenheitslösungen und Halbheiten. Zum Wesentlichen stießen sie nicht ein einziges Mal vor.

 

Der 9. November mußte so, als er mit Naturnotwendigkeit die ganze Staatsmacht der sozialdemokratischen Bewegung zuwarf, in dieser Bewegung auf eine überraschte, unvorbereitete und deshalb zunächst völlig willenlose Führerschicht treffen. Aus dem Vergangenen folgte dann mit tragischer Konsequenz das Unvermögen der Verantwortlichen, die gewaltigen sozialen und politischen Aufgaben und Kämpfe, die mit dem neuen Jahrhundert und im Weltkrieg geboren wurden und die von 1918 bis 1933 (vorläufig) den geschichtlichen Weg des deutschen Volkes bezeichnen, zu verstehen oder gar zu bestehen.

 

Rückschauende Geschichtsbetrachtung wird immer aufs neue von diesen geistigen Bedingtheiten und Voraussetzungen ausgehen müssen. Denn wie wäre sonst der völlige Mißerfolg zu erklären, das gänzliche Versagen einer Schicht von Führern, denen man teilweise wenigstens Intelligenz und Selbstlosigkeit gewiß nicht absprechen kann.

 

Ob die jetzt im Ausland weilenden sozialdemokratischen Parteiführer dieses Verständnis aufbringen, ist sehr fraglich. Sie werden zu diesem radikalen Bruch mit ihrer bisherigen Haltung kaum fähig sein. Es ist zum mindesten zweifelhaft, ob sie zwischen ihren vielen Anklagen noch Zeit finden, sich Rechenschaft abzulegen über ihre grauenhafte Verantwortung vor ihrer Gefolgschaft und über ihr inneres Versagen vor dem Problem des 19. Jahrhunderts, dessen Lösung ein großes Schicksal, ohnegleichen in seiner Einmaligkeit, ihnen anvertraut hatte. Sie werden auch jetzt noch nicht begreifen, wo und wie in ihnen selbst die tragische Schuld haftet, die ihr Scheitern, die den völligen Zusammenbruch herbeiführte. Sie werden auch jetzt noch ihren eigenen Privattheorien weiterleben, und die Geschichte wird über sie hinwegschreiten. Was war, kommt nie wieder. So oder so, es ist immer ein Neues!

 

Einer von diesen Führern mag eine Ausnahme sein: Wilhelm Sollmann. Er sah schon in den letzten Jahren mehr als die meisten anderen. Und auch jetzt, in der Emigration, wird er sich rücksichtsloser Rechenschaft ablegen. Gerade Sollmann durfte nicht flüchten!

 

Wenden wir den Blick von den Führern ab zu den Geführten, zur Gefolgschaft, um sie in diesem ersten Überblick in ihre Rolle hineinzustellen in dem großen Spiel um ein neues, ihnen näheres Staatswesen. Auch für ein zunächst oberflächliches Gesamtbild ist die Einstellung der zäh von unten ausströmenden und ausharrenden Kraft unerläßlich, soll es vor den Auseinandersetzungen mit den einzelnen Epochen, im Wechsel von Erfolg und Mißerfolg bestehen können. Wo wäre zum Beispiel eine Erklärung für die überraschende, neu wachsende Widerstandskraft ‑ nach rechts und links ‑ in der sozialdemokratischen Bewegung nach der ersten Demoralisierung im Jahre 1930, wenn nicht aus den Kräften des Fundamentes, aus der Masse ihrer unbekannten Soldaten? Der Begriff »Eiserne Front« war mehr als ein Schlagwort!

 

Nie hatte eine Führung eine ergebenere, eine treuere und selbstlosere Gefolgschaft hinter sich, als Wels, Müller und Breitscheid [sie] hatten in den Millionen organisierter deutscher Arbeiter. Als unerschütterliches Fundament standen sie voller Hingabe. Wagemutige und entschlossene Führer hätten Wunder mit ihnen vollbringen können. Sie marschierten voller Vertrauen, sie lebten in einer Opferbereitschaft ohnegleichen, ihr Glaube an die Idee kannte keinen Zweifel. Immer wieder setzten sie sich ein als einfache Soldaten eines Zieles, dem sie dienen wollten, und das ihrem Leben erst Inhalt und Sinn gab. Wahlniederlagen, politische Rückschläge, da und dort aufgedeckte Mißwirtschaft, sie riefen wohl ihren Unwillen und ihre Kritik auf den Plan, aber an ihrem Glauben und an ihrer Hingabe änderte sich nichts. Die verzweifeltste Unterwühlungsarbeit der Kommunisten, die heraufziehende Sturmflut des Nationalsozialismus, sie konnten diesen fundamentalen Unterbau nicht erschüttern.

 

Zum ersten Mal schlug ein zündender Blitz in diese Grundfeste am 20. Juli 1932 und riß sie tief auf. Was darauf folgte, nahm mit leiser Hand der stolzen Bewegung ihre innere Zuversicht mehr und mehr. Die Namen Braun und Severing bedeuteten viel in dem großen Glauben breiter Massen. Um diese Namen spielte das Trauerspiel am 20. Juli in Preußen. Der Glaube verlor seinen besten Ankergrund. Vor der Geschichte werden einst beide Fronten über diese Vorgänge am 20. Juli und über das, was daraus erwuchs, Verantwortung abzulegen haben.

 

Nach diesem jähen Umschwung begann dann der politische Absturz, der Verfall setzte ein. Die Gefolgschaft wurde noch einige Zeit getragen und gehalten von ihrer Erziehung, von ihrer Tradition und Fahnentreue. Die Führung dagegen rollte das alte Kampfbanner ein, gerade jetzt, wo Entschlüsse von größter Verantwortung und von größtem Einsatz fällig waren. In endlosen Debatten erstarb jede Kraft und jede Fähigkeit, sich auf das Neue, drohend Aufsteigende umzustellen. Der 20. Juli hatte die sozialdemokratische Führung geschlagen mit der politischen Strategie rücksichtslosen Willens und Machteinsatzes, einer Strategie, die der geschichtlich gewordenen Sozialdemokratie so fremd und so unverständlich war wie nur möglich. Was aus dieser Niederlage wurde, was danach kam im Laufe der Monate, war, so beschämend es auch klingen mag, nur noch die verzweifelte Hoffnung auf andere oder auf das Wunder.

 

Quelle: "Julius Leber - Schriften Reden Briefe 1920 - 1945 - Mit Beiträgen von Willy Brandt und Golo Mann", herausgegeben von Dorothea Beck und Wilfried F. Schoeller, München 1976, S. 181 - 185 (der vollständige Text befindet sich auf S. 181 - 246)

 

Anmerkung: Eine brillante und schonungslose Analyse über den Niedergang der SPD in der Weimarer Republik und das Versagen der führenden Sozialdemokraten insbesondere gegenüber dem aufziehenden Nationalsozialismus.

Der von Leber erwähnte 20. Juli 1932 meint den gegen Preußen gerichteten Staatsstreich verbunden mit der Absetzung der sozialdemokratischen Regierung unter dem Ministerpräsidenten Braun, die übrigens die hoch- und landesverräterische Finanzierung Hitlers und der NSDAP durch ausländische Geldgeber ermittelt hatten.