Rosa Luxemburg
Wenn irgendein Beweis für die
völlige Blindheit nötig war, mit der die verantwortlichen Lenker der
neudeutschen inneren und äußeren Politik das Land in unabsehbare Verwicklungen
stürzen, nun ist er erbracht. Die deutschen arbeitenden Klassen sind zwar seit
jeher an die stärksten Proben einer skrupellosen, nackten Interessenherrschaft
gewöhnt. Aber eine so brutale Provokation, wie sie in der neuen Flottenvorlage
liegt, ist angesichts der allgemeinen Situation, des weltgeschichtlichen
Moments, in der sie dem deutschen Volke präsentiert wird, sogar für den
jetzigen Kurs etwas Außergewöhnliches. Wie mit einem grellen Scheinwerfer
beleuchtet diese neue Zumutung an die Lammsgeduld der Arbeiterklasse nach allen
Seiten hin den ganzen Wahnwitz der heutigen kapitalistischen Politik, den
ganzen Widersinn der heutigen sozialen Zustände.
Seit Wochen und Monaten
herrscht in den weitesten Kreisen der proletarischen Bevölkerung Deutschlands
direkter Nahrungsmangel. Ganze Schichten fleißiger und ehrlicher Arbeitsmänner
und Frauen sind durch einen zynischen Streich der agrarischen Beutepolitik zur
Ernährung mit Fleischabfällen und Pilzen, zu langsamem chronischen Verhungern
verurteilt. Alle Klagen, alle grollenden Proteste der ausgepowerten Volksmasse
werden mit kaltem Lächeln von den mit Ministerportefeuilles ausgestatteten
Kommis der agrarischen Sippe abgewiesen.
Und in diesem Augenblick, wo
die Not sich zu einer öffentlichen Kalamität gestaltet, wo hunderttausende
Proletarier erbarmungs‑ und rettungslos dem furchtbarsten Elend
preisgegeben werden, wird gleichzeitig als die erste große Aktion der Regierung
und der bürgerlichen Mehrheitsparteien im Reichstage nicht etwa eine Vorlage
zur Ausgestaltung der elenden Sozialgesetzgebung, nicht ein Notstandsgesetz zur
Rettung der Unzahl bedrohter proletarischer Existenzen, nicht die schleunige
Eröffnung der Grenze im Osten, sondern ‑ eine Mehrforderung von einer
halben Milliarde Mark für Panzerkreuzer, Torpedodivisionen und Vermehrung der
Marinemannschaften angekündigt! Auf das stärkste Stück der junkerlichen Beutepolitik wird das stärkste
Stück des industriellen Raubzugs aufgetrumpft, nachdem die Volksmasse von den
Ostelbiern geweisblutet worden, wird sie zum >Ausgleich der Interessen<
nunmehr einer Handvoll Panzerplattenfabrikanten und dem sonstigen Häuflein
direkter Interessenten unserer Flotten‑ und Weltpolitik als wehrloses
Objekt vorgeworfen.
Doch nicht genug. Die neue
ungeheure Vermehrung der Ausgaben für eine abenteuerliche Welt‑ und
Kolonialpolitik wird dem deutschen Volke gerade in einem Augenblick zugemutet,
wo neue grauenhafte Enthüllungen über die wilde Rohheit der kapitalistischen
Kolonialpolitik in den französischen wie in den belgischen Kolonien jede
Unterstützung dieses barbarischen Treibens nicht nur zu einem wirtschaftlich
und politisch verhängnisvollen, sondern auch zu einem verbrecherischen
Unternehmen stempeln. Noch mehr: der neue Sturmlauf einer unverantwortlichen
und kopflosen Flottenraserei wagt sich gerade in dem Moment hervor, wo ein kaum
abgeschlossenes blutiges Drama der Weltpolitik im fernen Osten auch dem
Blödesten die Augen darauf öffnet, wie sehr die Sozialdemokratie mit ihren
Warnungen vor den furchtbaren Gefahren des weltpolitischen Malstroms recht
hatte. Jeder halbwegs zurechnungsfähige Politiker muß sich darüber klar sein,
daß der Ausgang des russisch‑japanischen Krieges nicht etwa ein Abschluß,
sondern umgekehrt bloß der Beginn eines neuen Kapitels weltpolitischer Händel
und Kämpfe im Osten ist, die je weiter, je unübersehbarer, je gewaltiger werden.
Sich in diesen todbringenden Strudel durch maß‑ und endlose Rüstungen
stürzen, zugleich aber in der ohnehin gespannten internationalen Lage, nach dem
jüngsten Marokkokonflikt, durch provokatorische Flottenvermehrungen neue
Konfliktsmomente schaffen, das ist ein frevelhaftes Spiel mit den Schicksalen
der Millionen, wie es davon sogar in Preußen‑Deutschland nicht viel
Beispiele gibt.
Allein das wichtigste Moment
ist: Der derbe Faustschlag der herrschenden kapitalistischen Interessenpolitik
wird dem deutschen Proletariat gerade in dem Augenblick verabreicht, wo vom
Osten die schönsten Blitze und das herrlichste Donnerwetter der russischen
Revolution in die dumpfe Dunkelkammer der preußisch‑deutschen
Rückständigkeit herüberleuchtet und alle schwarzen Winkel der baufälligen Baracke
mit erschreckender Deutlichkeit aufzeigen. Die russische Revolution ist, wie
jeder denkende Politiker, jeder ernste soziale Beobachter weiß, bloß der Prolog
einer stürmischen Periode scharfer Klassenkämpfe in allen kapitalistischen
Staaten. Deutschland ist vielleicht der Nächste an der Reihe dieser Staaten, in
denen eine langjährige skrupellose Klassenherrschaft von der Volksmasse zur
Rechenschaft gezogen wird. Und eben jetzt beeilt sich die deutsche Regierung,
mit Hilfe der bürgerlichen Parteien der Arbeiterklasse vorzudemonstrieren, daß
sie nicht im Traume daran denkt, dem heraufziehenden internationalen
Volksgewitter etwa durch eine demokratische, fortschrittliche Gestaltung der
inneren politischen Zustände den Wind aus den Segeln zu nehmen, den Sturm
hinauszuschieben, ihn milder zu gestalten. Im Gegenteil: mit neuen Rüstungen zu
Lande und zu Wasser wird das arbeitende Volk Deutschlands just in dem
Augenblick traktiert, als die russische Revolution ihm wieder einmal die alte
Wahrheit unter Blutströmen illustriert, daß der Militarismus und Marinismus von
der herrschenden Reaktion stets und überall vor allem nicht gegen den äußeren,
sondern gegen den inneren Feind, nicht als Schutzwall des »Vaterlandes«,
sondern als Bollwerk der Klassen‑ und der dynastischen Herrschaft
gebraucht wird.
Weiter: Die neue
Flottenvorlage ist nur eine »Ergänzung« zu dem großen Flottengesetz vom Jahre
1900, mit dem Deutschland den ersten waghalsigen Sprung ins Verderben einer
uferlosen, abenteuerlichen Weltpolitik getan hat. Diese »Ergänzung« ist aber,
wie auch die früheren, nichts anderes als eine systematische Vernichtung, eine
Illusorischmachung des verfassungsmäßigen Bewilligungsrechts der
Volksvertretung. Der Reichstag beschließt in seiner bürgerlichen Majorität ein
Flottengesetz, eine bestimmte finanzielle Aufwendung, damit nach einem, nach
zwei Jahren die Regierung mit neuen »Ergänzungen« zu dem Gesetz herausrückt,
die wieder von der bürgerlichen Majorität unter dem Vorwand bewilligt werden,
daß man durch den bereits begonnenen Bau der neuen Flotte vor ein fait
accompli, vor eine fertige Tatsache gestellt sei, so daß die »unvorhergesehene«
Erhöhung ihrer Kosten gewissermaßen dem Volke ohne weiteres wie eine Pistole
auf die Brust gesetzt wird. Die Reichstagsdebatten, die Annahme und die
Festlegung neuer Flotten‑ und Militärgesetze verwandeln sich dadurch in
eine schale Farce, an der die >liberalen< Vertreter des parlamentarischen
Kretinismus Geschmack finden mögen, die aber der Arbeiterklasse nur Ekel und
Abscheu einflößen kann. Und nun gerade angesichts der grandiosen ersten Probe
auf eine revolutionäre Massenaktion des modernen Proletariats in Rußland,
findet die deutsche Regierung nichts Besseres zu tun, als den deutschen
Parlamentarismus vor aller Welt wieder einmal zu verhöhnen, dem deutschen
Proletariat mit einem Fingerzeig auf den Tempel der bürgerlichen
»gesetzgebenden« Geschwätzigkeit wieder einmal deutlich zuzurufen: Laß alle
Hoffnung fahren! Wenn eine hochwohlweise Aktion extra dazu angetan war, in der
Arbeiterklasse Deutschlands noch mehr das Augenmerk, die Sympathien, die
Hoffnungen von der rein parlamentarischen Reformaktion auf die direkte
Massenaktion zu wenden, dann ist es sicher die neue Flottenvorlage!
Und noch eins! In keinem Stück
der heute geltenden Reaktionspolitik des Deutschen Reiches ist der enge
Zusammenhang mit der Monarchie, mit dem persönlichen Regiment so stark und so klar
zum Vorschein gebracht, wie gerade in der weltpolitischen Schwärmerei. Das
deutsche Proletariat weiß zu gut, daß es »unsere herrliche Flotte« demselben
Kurs verdankt, wie die unvergeßliche Zuchthausvorlage. Und nun meldet sich
dieses spezielle Schoßkind des persönlichen Regiments, der Zwillingsbruder des
deutschen Militarismus: die Flottenpolitik, wiederum in einem Augenblick, wo
von Rußland her das ganze brandende Stimmengewirr die Revolution immer mehr und
mehr von dem mächtigen Donnerruf übertönt wird: Es lebe die Republik!
Die neue Flottenvorlage,
»nehmt alles nur in allem«, ist ein schlagender Beweis, daß die herrschende
Politik in Deutschland blindlings mit verhängten Zügeln drauflosstürmt, ohne
die geringste warnende Ahnung von den großen und gewaltigen Dingen zu haben,
die da rings herum vor sich gehen. Denn mit der einen Warnung hätte schließlich
die russische Revolution den leitenden Politikern und Parteien Deutschlands
noch dienen sollen: sie hat gerade in den letzten Tagen gezeigt, daß in jenen
großen Momenten, wo das Maß voll wird und nach Hegelschem Ausdruck »die
Quantität in die Qualität übergehe«, auch der innere zwiespältige Charakter des
Militärs umschlägt, der Soldat und Matrose wird aus einem gedrillten Werkzeuge
der Reaktion zum ‑ freiheitsliebenden Bürger und zum treuen Sohn des
Volkes. Hätten unsere Flottenschwärmer für die gewaltigen Lehren der
Zeitgeschichte noch ein offenes Ohr, sie müßten das Wort des wankenden
»Admirals des Stillen Ozeans« unter seiner untergehenden Kamarilla hören, die
der ganzen internationalen Reaktion warnend raunen: Morituri te salutant ‑
dem Tode Geweihte entbieten euch ihren Gruß.
Quelle: Rosa Luxemburg am 19.11.1905 zur dritten Flottennovelle der
Reichsregierung im sozialdemokratischen Parteiorgan "Vorwärts"