Republikferne Bürger

 

Wir lebten im Widerspruch, ohne besondere Zuneigung zu der immer wieder gedemütigten Republik, aber voller Sehnsucht nach Würde, Größe und Lebenssinn. Wir befanden uns in einer grauen Gegenwart, schwankend zwischen einer Zukunft ohne Perspektive und dem vagen Traum von einem mythischen Reich jenseits der zweifellos schuldhaft zugrunde gerichteten kaiserlichen Herrlichkeit. Die Versuchung zum Selbstbetrug, zur Flucht ins Illusionäre war groß. ( ... )

 

Es war nicht leicht, sich in jenen chaotischen Jahren nach 1918 zu orientieren, einen verläßlichen Halt zu finden. Man war nicht mehr Untertan SM (Seiner Majestät ‑ Anm. d. Red.), man war Bürger einer Republik. Der Pflichtmensch, der in unverbrüchlichem Gehorsam, in streng geregelter militärischer und ziviler Disziplin nach einem sakrosankten moralischen Kodex unter dem Doppelgestirn von Thron und Altar sein Lebenspensum absolvierte ‑ dieser "Pflichtmensch" sah sich mit einemmal einer Freiheit ausgesetzt, die ihm aus Willkür, Unordnung, Sittenlosigkeit zu bestehen schien.

 

Das bis dahin in einem übersichtlichen sozialen Raster gegliederte Volk, das im wesentlichen aus Herrschaften und "Leuten", aus Standespersonen und Dienstpersonal, aus privilegierten Befehlshabern und abhängigem Proletariat bestand, hatte sich in eine anscheinend diffuse Masse von "Stimmberechtigten" verwandelt, die nach dem Verständnis der "besseren" Gesellschaft doch nur "Stimmvieh" waren, nach wie vor unmündig, der Führung bedürftig. Aber wo waren die zur Führung Legitimierten, die Garanten einer restaurierten gesellschaftlichen und sittlichen Ordnung? SM, soviel man auch an ihm auszusetzen hatte, war immerhin "von Gottes Gnaden" gewesen. Wer von den neuen Männern hatte die "Gnade"?

 

Man liebäugelte aber auch mit den aus dem Kriege übriggebliebenen Freikorps und befreundete sich schließlich mit den neuen militanten Formationen der NSDAP. Auch die Putschisten im Stile von Kapp durften auf Wohlwollen in der bürgerlichen Gesellschaft rechnen. Man war primär an der Ordnung, am formalen Recht interessiert; Gerechtigkeit rangierte an zweiter Stelle und wurde zumeist als Gleichmacherei mißverstanden, als Nivellierung, als Niedergang der bürgerlichen Kultur.

 

Ich selbst, gespeist von der geistigen Tradition der vorrevolutionären bürgerlichen Gesellschaft, ließ mich in jenen turbulenten Jahren allzuleicht bezaubern von formaler Größe, ästhetischer Ordnung, moralischer Disziplin. Von daher erklärt es sich wohl, daß ich, vorübergehend, vom Glanz des Stahlgewitters Ernst Jüngers geblendet und von seinen Mythologimena betört wurde. Ein Schulfreund hatte mich angesteckt. Wir schwafelten viel vom "Heldischen", vom "Heroischen". Der Krieg, die Niederlage wurde von uns nicht reflektiert, sondern als "nibelungischer" Untergang mythologisiert. Wir träumten vom verborgenen Reich und einem heimlichen geistigen Führer, der auf seine Stunde wartete. (...)

 

Mein politisches Interesse war unterentwickelt. In der Zeitung, der nationalliberalen Täglichen Rundschau, die damals zweimal am Tage erschien, interessierte mich ausschließlich der kulturelle Teil, das Feuilleton. Auch meinem Freundeskreis fehlte das politische Organ. Wir waren, unserer Herkunft nach, selbstverständlich "national", aber ohne bewußt staatsbürgerliche Gesinnung; zu fein für die banale Demokratie. Wir verkannten, um nicht zu sagen verachteten, die sich im Alltagsgeschäft beschmutzenden Demokraten. Man konnte damals wahrlich keinen Ruhm und nur wenig Ehre im Existenzkampf der von allen Seiten, von den radikalen Rechten wie von den extrem Linken, befehdeten Republik gewinnen. (...)

 

Heinz Flügel, "Wir träumten vom verborgenen Reich", in: Rudolf Pörtner (Hg.), Alltag in der Weimarer Republik. Erinnerungen an eine unruhige Zeit, Düsseldorf 1990, S. 175 ff.

 

[ ... ] Auch die intellektuelle Linke kann sich für "Weimar" nicht erwärmen. Karl von Ossietzky nennt die Weimarer Republik "ein trauriges Umsonst". Zu ihrem zehnten Jahrestag schreibt er in der Weltbühne: "Deutschland ist jetzt zehn Jahre Republik, und es hat mindestens fünf davon gedauert, ehe sich Republikaner in größerer Anzahl meldeten [ ... ] Im allgemeinen hat man erkannt, daß auch in der neuen Form der Geist der Kaiserei weiterexistieren kann. Deutsche Revolution ein kurzes pathetisches Emporrecken, und dann ein Niedersinken in die Alltäglichkeit. Massengräber in Berlin. Massengräber in München, an der Saale, am Rhein, an der Ruhr. Ein tiefes Vergessen liegt über den Gräbern, ein trauriges Umsonst. Ein verlorener Krieg kann schnell verwunden werden. Eine verspielte Revolution, das wissen wir, ist die Niederlage eines Jahrhunderts. So brechen wir auf ins zweite nachrevolutionäre Jahrzehnt."

 

Emil Dovifat (1890‑1969, Publizistikwissenschaftler) charakterisiert in seinem Vortrag "Die Publizistik in der Weimarer Republik" die Zeitschrift "Weltbühne": "Sie zeigte schlagende sprachliche Kraft, besonders Hintergrundinformation, pflegte die sarkastische Glosse und den politischen Vers, traf die Mängel der Zeit und die Gegner der Republik erbarmungslos, ebenso oft aber auch das Staatsleben selber und seine Träger in unterschiedsloser kritischer Heftigkeit."

 

Thilo Koch, Die goldenen zwanziger Jahre, Frankfurt/M. 1970, S. 98 f.

 

Quelle: "Informationen zur politischen Bildung" 261/4. Quartal 1998, S. 47