Reich der Lüge
8. Mai 1945 - Niederlage oder Befreiung?
Herr Dr. Weißmann, manche Kommentatoren sagen für den 8. Mai 2005, den
60. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands, eine
geschichtspolitische "Erinnerungsschlacht" voraus. Wie definieren Sie
die unterschiedlichen Lager?
Weißmann: Auf der einen Seite steht die Masse derjenigen,
die an der Umdeutung zur "Befreiung" festhalten wollen, auf der
anderen die, die den Aspekt der Niederlage betonen. Die Kräfteverhältnisse sind
sehr ungleich, denn in den vergangenen zwanzig Jahren ist es gelungen, die
Interpretation als "Befreiung" weitgehend durchzusetzen und alles
vergessen zu machen, was an Schrecklichem zu diesem 8. Mai dazugehört.
Was meinen Sie damit konkret?
Weißmann: Nun, auch wenn man mittlerweile die Vertreibung
als Faktum wieder zur Kenntnis nimmt, dann bleibt doch immer noch eine Menge
anderes: die halbe Million Verschleppter, von denen fast die Hälfte in
sowjetischen Lagern oder auf dem Weg dahin umgekommen ist, die Vergewaltigung
von mehreren hunderttausend Frauen, von denen viele die Vergewaltigung nicht
überlebten, die Brandschatzungen von Städten ‑ nicht nur durch
sowjetische Truppen, sondern im Fall Freudenstadts auch durch Franzosen ‑,
die Massaker an Gefangenen, etwa an 190 Volkssturmmännern, die von Polen bei
Niederkaina lebendig verbrannt wurden, die "Lager des langsamen
Todes" der Amerikaner auf den Rheinwiesen, schließlich die
Terrorherrschaft von Banden, wie etwa in Herford, die sich aus Displaced
Persons bildeten, Raub, Plünderung und das, was der jüdische Humanist Victor Gollancz die "Politik
des Verhungerns" genannt hat. Gar nicht zu reden davon, daß zu den
"Befreiern" auch Stalin gehörte, der 1945 die sowjetische Herrschaft
in Mittel‑ und Osteuropa zementierte.
Das Institut für Staatspolitik hat deshalb die Initiative "1945 ‑
Die Niederlage" ins Leben gerufen. Wie soll sie funktionieren? Was ist die
Absicht der Initiative?
Weißmann: Es geht wie bei allen Aktionen des Instituts vor
allem darum, Gegenöffentlichkeit zu schaffen, aufzuklären und zu informieren.
Zu dem Zweck werden wir im kommenden Jahr mehrere Veranstaltungen durchführen,
teilweise mit Seminarcharakter, aber auch mit dem Ziel, ein angemessenes und
würdevolles Gedenken der deutschen Opfer zu gestalten. Außerdem werden wir mit
unserer Zeitschrift Sezession und Buchprojekten auf den Plan
treten.
"Auf
Dauer kann man nicht im 'Reich der Lüge' leben"
Die Aktion läuft bereits seit acht Wochen. Kann man schon eine erste
Zwischenbilanz ziehen?
Weißmann: Wir haben bereits von vielen Seiten Unterstützung
erhalten. Aber die Mittel reichen natürlich nie zur Verwirklichung aller Pläne,
die man so hat. Gegenwärtig arbeiten wir mit Hochdruck an einer umfassenden
Dokumentation der letzten Kriegsphase und der Zeit des "Interregnums"
zwischen Kapitulation und Berliner Erklärung der Alliierten. Dabei erreichen
uns täglich erschütternde Berichte, Briefe, Tagebuchaufzeichnungen,
Erinnerungsprotokolle über diese Zeit, aus denen wir eine Auswahl treffen
werden, die dann entsprechend kommentiert der Öffentlichkeit vorgelegt wird.
Wann und wie werden Sie Ihre Ergebnisse präsentieren? Wie wollen Sie die
Öffentlichkeit erreichen? Wieviel Öffentlichkeit werden Sie ‑ realistisch
gesehen ‑ erreichen?
Weißmann: Die Winterakademie zum Thema "1945"
findet im Februar statt, eine Veranstaltung in Berlin unmittelbar vor dem Datum
des Jahrestags. Zwei oder drei Buchtitel werden bei Edition Antaios im März
herauskommen, die Nummer der Sezession mit
dem Schwerpunkt "1945" erscheint im April. Realistisch ist, daß wir
einige tausend Interessenten erreichen.
Glauben Sie, daß diese Initiative ausreicht? Bedarf es nicht medienwirksamerer
Aktionen, um wirklich "Flagge zu zeigen"?
Weißmann: Das IfS hat im allgemeinen einen elitären
Zuschnitt seiner Veranstaltungen gewählt, aber wir rechnen für die Aktion in
Berlin durchaus mit einigen hundert Teilnehmern. Wenn Sie es medienwirksamer
haben wollen, müssen Sie sich an eine andere Adresse wenden. Das entspricht
nicht unserem Ansatz und übrigens auch nicht unseren finanziellen
Möglichkeiten.
Wird sich die Deutung des 8. Mai 1945 als "Befreiung" gegen die
historische Erinnerung langfristig durchsetzen?
Weißmann: Ich glaube nicht, daß sich die Deutung als
"Befreiung" durchsetzt. Der Grund dafür ist die schwindende
Legitimationsbasis der Politischen Klasse. Allseits wird nach Möglichkeiten
gesucht, den neuerdings gewünschten "Patriotismus" auch historisch zu
unterfüttern. Natürlich möchte man dabei die deutsche Geschichte 1945 neu
beginnen lassen, aber das wird auf die Dauer niemanden überzeugen und die Wiederkehr
des Verdrängten heraufbeschwören. Und das bedeutet, daß die Sache selbst wieder
in den Blick rückt. Das weckt Neugier, auch der jüngeren Generation. Gerade
weil man das deutsche Leiden so lange und so konsequent beschwiegen hat, wird
die Konfrontation mit dem ganzen Ausmaß dieses Leidens eine tiefe Erschütterung
auslösen. Auf Dauer kann man nicht im "Reich der Lüge" leben, auch
die Deutschen können es nicht und werden es nicht, insofern sie als Volk
weiterleben wollen.
MORITZ SCHWARZ
Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und
Gründungsmitglied des Instituts für Staatspolitik, Rittergut Schnellroda, 06268
Albersroda
Quelle: JUNGE FREIHEIT vom 3. Dezember 2004