Wladimir Putin
Rede auf der Münchner Konferenz zu Fragen
der Sicherheitspolitik im Februar 2007
Vielen Dank, verehrte Frau Kanzlerin, für die Einladung, an den Tisch der
Konferenz, die Politiker, Militärs, Unternehmer und Experten aus mehr als 40
Ländern der Welt zusammengeführt hat.
Das Format der Konferenz gibt mir die Möglichkeit, der „übertriebenen
Höflichkeit“ zu entgehen, mit geschliffenen, angenehmen, aber leeren
diplomatischen Worthülsen sprechen zu müssen. Das Format der Konferenz erlaubt,
das zu sagen, was ich wirklich über die Probleme der internationalen Sicherheit
denke. Und wenn meine Überlegungen meinen Kollegen allzu polemisch oder ungenau
erscheinen, ärgern Sie sich bitte nicht über mich – es ist doch nur eine
Konferenz. Und ich hoffe, dass nicht schon nach zwei, drei Minuten meines
Auftrittes Herr Teltschik das „Rotlicht“ aufleuchten lässt.
Also. Es ist bekannt, dass die Problematik der internationalen Sicherheit
bedeutend breiter ist als die Fragen der militärpolitischen Stabilität. Dazu
gehören die Beständigkeit der Weltwirtschaft, die Überwindung der Armut, die
ökonomische Sicherheit und die Entwicklung des Dialogs zwischen den
Zivilisationen.
Dieser allumfassende, unteilbare Charakter der Sicherheit drückt sich auch in
seinem Grundprinzip aus: „Die Sicherheit des Einzelnen – das ist die Sicherheit
aller“. Wie sagte doch Franklin Roosevelt schon in den ersten Tagen des II.
Weltkrieges: „Wo auch immer der Frieden gebrochen wird, ist er gleichzeitig
überall bedroht und in Gefahr.“
Diese Worte haben bis heute ihre Aktualität behalten. Davon zeugt übrigens auch
das Thema unserer Konferenz, so wie es hier geschrieben steht: „Globale Krisen
– globale Verantwortung“.
Vor gerade einmal zwei Jahrzehnten war die Welt ideologische und wirtschaftlich
zerbrochen, aber ihre Sicherheit garantierten die gewaltigen strategischen
Potenziale zweier Supermächte.
Der globale Gegensatz schob äußerst drängende ökonomische und soziale Fragen an
den Rand der internationalen Beziehungen und Tagesordnungen. Und wie jeder
Krieg hinterließ uns auch der „kalte Krieg“ – bildlich ausgedrückt –
„Blindgänger“. Ich meine damit ideologische Stereotypen, doppelte Standards,
irgendwelche Schablonen des Blockdenkens.
Die nach dem „Kalten Krieg“ vorgeschlagene monopolare Welt kam auch nicht zu
Stande.
Die Menschheitsgeschichte kennt natürlich auch Perioden monopolaren Zustandes
und des Strebens nach Weltherrschaft. Alles war schon mal da in der Geschichte
der Menschheit. Aber was ist eigentlich eine monopolare Welt? Wie man diesen
Terminus auch schmückt, am Ende bedeutet er praktisch nur eines: es gibt ein
Zentrum der Macht, ein Zentrum der Stärke ein Entscheidungs-Zentrum.
Es ist die Welt eines einzigen Hausherren, eines Souveräns. Und das ist am Ende
nicht nur tödlich für alle, die sich innerhalb dieses Systems befinden, sondern
auch für den Souverän selbst, weil es ihn von innen zerstört.
Das hat natürlich nichts mit Demokratie gemein. Weil Demokratie bekanntermaßen
die Herrschaft der Mehrheit bedeutet, unter Berücksichtigung der Interessen und
Meinungen der Minderheit.
Nebenbei gesagt, lehrt man uns - Russland - ständig Demokratie. Nur die, die
uns lehren, haben selbst, aus irgendeinem Grund, keine rechte Lust zu lernen.
Ich denke, dass für die heutige Welt das monopolare Modell nicht nur
ungeeignet, sondern überhaupt unmöglich ist. Nur nicht, weil für eine
Einzel-Führerschaft in der heutigen, gerade in der heutigen, Welt weder die
militärpolitischen, noch die ökonomischen Ressourcen ausreichen. Aber was noch
wichtiger ist – das Modell selbst erweist sich als nicht praktikabel, weil es
selbst keine Basis hat und nicht die sittlich-moralische Basis der modernen
Zivilisation sein kann.
Damit ist alles, was heute in der Welt geschieht - und wir fangen jetzt erst
an, darüber zu diskutieren – eine Folge der Versuche, solch eine Konzeption der
monopolaren Welt, in der Welt einzuführen.
Und mit welchem Ergebnis?
Einseitige, oft nicht legitime Handlungen haben nicht ein einziges Problem
gelöst. Vielmehr waren sie Ausgangspunkt neuer menschlicher Tragödien und
Spannungsherde. Urteilen Sie selbst: Die Kriege, die lokalen und regionalen
Konflikte sind nicht weniger geworden. Herr Teltschik hat ganz leicht daran
erinnert. Und es sterben nicht weniger Menschen bei diesen Konflikten als
früher, sondern sogar mehr. Bedeutend mehr!
Heute beobachten wir eine fast unbegrenzte, hypertrophierte (überspannte,
überzogene, d.B.) Anwendung von Gewalt - militärischer Gewalt - in den
internationalen Beziehungen, einer Gewalt, welche eine Sturmflut aufeinander
folgender Konflikte in der Welt auslöst. Im Ergebnis reichen dann nicht die
Kräfte für eine komplexe Lösung wenigstens eines dieser Konflikte. Eine
politische Lösung ist ebenfalls unmöglich.
Wir sehen eine immer stärkere Nichtbeachtung grundlegender Prinzipien des
Völkerrechts. Mehr noch – bestimmte Normen, ja eigentlich fast das gesamte
Rechtssystem eines Staates, vor allem, natürlich, der Vereinigten Staaten, hat
seine Grenzen in allen Sphären überschritten: sowohl in der Wirtschaft, der
Politik und im humanitären Bereich wird es anderen Staaten übergestülpt. Nun,
wem gefällt das schon?
In den internationalen Angelegenheiten begegnet man immer öfter dem Bestreben,
die eine oder andere Frage ausgehend von einer so genannten politischen
Zielgerichtetheit auf der Grundlage der gegenwärtigen politischen Konjunktur zu
lösen.
Das ist allerdings äußerst gefährlich. Es führt dazu, dass sich schon niemand
mehr in Sicherheit fühlt. Ich will das unterstreichen – niemand fühlt sich mehr
sicher! Weil sich niemand mehr hinter dem Völkerrecht wie hinter einer
schützenden Wand verstecken kann. Eine solche Politik erweist sich als
Katalysator für das Wettrüsten.
Die Dominanz des Faktors Gewalt löst in einer Reihe von Ländern den Drang nach
dem Besitz von Massenvernichtungswaffen aus. Mehr noch – es erschienen ganz
neue Bedrohungen, die zwar früher schon bekannt waren, aber heute globalen
Charakter annehmen, wie der Terrorismus.
Ich bin überzeugt, dass wir heute an einem Grenzpunkt angelangt sind, an dem
wir ernsthaft über die gesamte Architektur der globalen Sicherheit nachdenken
sollten.
Man muss ablassen von der Suche nach einer ausgeklügelten Balance der
Interessen aller international handelnden Subjekte. Umso mehr, als sich gerade
jetzt die „internationale Landschaft“ so spürbar und so schnell ändert, und
zwar auf Grund der wirtschaftlichen Entwicklung einer ganzen Reihe von Staaten
und Regionen.
Die Frau Bundeskanzlerin hat schon darauf aufmerksam gemacht. So ist das
summierte BIP Indiens und Chinas hinsichtlich der paritätischen Kaufkraft schon
größer als das der USA. Das gleichermaßen berechnete BIP der BRIC-Staaten –
Brasilien, Russland, Indien und China- übersteigt das BIP der EU. Nach
Auffassung der Experten wird diese Entwicklung weiter anhalten.
Es besteht kein Zweifel, dass das wirtschaftliche Potenzial neuer
Wachstumszentren auf der Welt unausweichlich auch in politischen Einfluss
umschlägt und die Multipolarität stärkt.
In diesem Zusammenhang wächst auch ernsthaft die Rolle der mehrseitigen
Diplomatie. Offenheit, Transparenz und Berechenbarkeit sind in der Politik ohne
Alternative, aber die Anwendung von Gewalt sollte eine ebenso ausgeschlossen
sein, wie die Anwendung der Todesstrafe in den Rechtssystemen einiger Staaten.
Wir beobachten aber heute, im Gegenteil, dass Länder, in denen die Anwendung
der Todesstrafe sogar gegenüber Mördern und anderen gefährlichen Verbrechern
verboten ist, ungeachtet dessen man militärischen Aktionen teilnehmen, die
schwerlich als legitim zu bezeichnen sind. Doch bei diesen Konflikten sterben
Menschen – Hunderte, Tausende friedlicher Menschen!
Gleichzeitig stellt sich die Frage: Sollen wir etwa untätig und willenlos auf
die verschiedenen inneren Konflikte in einzelnen Ländern starren, auf das
Treiben autoritärer Regimes, von Tyrannen, auf die Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen? Genau hierin lag das Wesen der Frage, die der
Bundeskanzlerin von unserem verehrten Kollegen Lieberman gestellt wurde. Das
ist tatsächlich eine ernsthafte Frage! Können wir unbeteiligt zusehen, was
passiert? Natürlich nicht.
Aber haben wir die Mittel, um diesen Bedrohungen zu widerstehen? Natürlich
haben wir sie. Wir brauchen uns nur an die jüngste Geschichte zu erinnern.
Haben wir nicht in unserem Land einen friedlichen Übergang zur Demokratie
vollzogen? Es hat doch eine friedliche Transformation des sowjetischen Regimes
stattgefunden. Und was für eines Regimes! Mit welcher Menge an Waffen, darunter
Kernwaffen! Warum muss man jetzt, bei jedem beliebigen Vorkommnis, bombardieren
und schießen. Es kann doch nicht sein, dass es uns bei einem Verzicht auf die
Androhung gegenseitiger Vernichtung an politischer Kultur und Achtung vor den
Werten der Demokratie und des Rechts fehlt.
Ich bin überzeugt, dass der einzige Mechanismus zur Entscheidung über die
Anwendung von Gewalt als letzte Maßnahme nur die UN-Charta sein darf. In diesem
Zusammenhang habe ich auch nicht verstanden, was kürzlich der
Verteidigungsminister Italiens gesagt hat, oder er hat sich unklar ausgedrückt.
Ich habe jedenfalls verstanden, dass die Anwendung von Gewalt nur dann als
legitim gilt, wenn sie auf der Grundlage einer Entscheidung der NATO, der EU
oder der UNO basiert. Wenn er das tatsächlich meint, dann haben wir
verschiedene Standpunkte. Oder ich habe mich verhört. Legitim ist eine
Anwendung von Gewalt nur dann zu nennen, wenn ihr ein UNO-Beschluss zu Grunde
liegt. Und man darf die UNO nicht durch die NATO oder die EU ersetzen. Und wenn
die UNO wirklich die Kräfte der internationalen Gemeinschaft vereint, die
tatsächlich auf Ereignisse in einzelnen Staaten reagieren können, wenn wir uns
von der Nichtbeachtung internationalen Rechts abkehren, dann kann sich die
Situation ändern. Im anderen Fall gerät die Situation nur in eine Sackgasse und
es häufen sich die schweren Fehler. Zugleich muss man erreichen, dass das
Völkerrecht universalen Charakter erhält, sowohl im Verständnis, wie auch in
der Anwendung der Normen.
Man darf nicht vergessen, dass demokratische Handlungen in der Politik unbedingt
eine Diskussion und sorgfältige Ausarbeitung von Entscheidungen voraussetzt.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Die potenzielle Gefahr einer Destabilisierung der internationalen Beziehungen
ist auch mit einem Abrüstungs-Stau verbunden.
Russland tritt für die Wiederaufnahme des Dialogs zu dieser wichtigen Frage
ein.
Es ist wichtig, die Beständigkeit der völkerrechtlichen Basis für die Abrüstung
zu sichern, gleichzeitig auch die Fortführung des Prozesses der Reduzierung der
Kernwaffen zu gewährleisten.
Wir haben mit den USA den Abbau unserer strategischen Kernwaffenpotenziale auf
1700 – 2200 Sprengköpfe bis Ende 2012 vereinbart. Russland beabsichtigt, die
übernommenen Verpflichtungen streng einzuhalten. Wir hoffen, dass unsere
Partner genauso transparent handeln und nicht für einen „schwarzen Tag“ ein
paar Hundert Sprengköpfe zurücklegen. Und wenn uns heute der neue
Verteidigungsminister der USA erklärt, dass die Vereinigten Staaten diese
überzähligen Sprengköpfe nicht in Lagern, nicht unter dem Kopfkissen und auch
nicht unter der Bettdecke verstecken, dann schlage ich vor, dass sich alle
erheben und stehend applaudieren. Das wäre eine sehr wichtige Erklärung.
Russland hält sich weiterhin streng, wie auch bisher, an die Verträge über die
Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen und die vielseitigen Kontrollregimes für
Raketentechnologie. Die in diesen Dokumenten festgehaltenen Prinzipien tragen
universellen Charakter.
In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass die UdSSR und die USA in
den 80er Jahren einen Vertrag über die Liquidierung einer ganzen Klasse von
Raketen geringer und mittlerer Reichweite unterzeichnet haben, aber einen
universellen Charakter hat dieses Dokument nicht erhalten.
Heute haben schon eine Reihe Staaten solche Raketen: Die Koreanische
Volksdemokratische Republik, die Republik Korea, Indien, Iran, Pakistan,
Israel. Viele andere Staaten der Welt projektieren solche Systeme und planen,
sie mit Waffen zu bestücken. Nur die USA und Russland haben sich verpflichtet,
keine solchen Waffensysteme zu bauen.
Klar, dass wir unter solchen Bedingungen über die Gewährleistung unserer
eigenen Sicherheit nachdenken müssen.
In Verbindung damit dürfen wir keine neuen destabilisierenden
hochtechnologischen Waffenarten zulassen. Nicht zu reden von Maßnahmen zur
Erschließung neuer Sphären der Konfrontation, vor allem im Kosmos. „Star Wars“
sind bekanntermaßen längst keine Utopie mehr, sondern Realität. Schon Mitte der
80er Jahre (des vergangenen Jahrhunderts) haben unsere amerikanischen Partner
in der Praxis einen ihrer eigenen Satelliten gekapert.
Die Militarisierung des Weltraums kann, nach Auffassung Russlands, für die
Weltgemeinschaft unvorhersehbare Folgen provozieren – nicht weniger als zu
Beginn der Kernwaffenära. Wir haben nicht nur einmal Initiativen vorgelegt, die
auf den Verzicht auf Waffen im Kosmos gerichtet waren.
Ich möchte Sie heute darüber informieren, dass wir einen Vertragsentwurf über
die Vermeidung einer Stationierung von Waffen im Weltraum vorbereitet haben. In
der nächsten Zeit wird er allen Partnern als offizieller Vorschlag zugeleitet
werden. Lassen sie uns gemeinsam daran arbeiten.
Uns beunruhigen auch Pläne zum Aufbau von Elementen eines Raketenabwehrsystems
in Europa. Wer braucht eine neue Runde eines in diesem Falle unausweichlichen
Wettrüstens? Ich zweifele zutiefst daran, dass es die Europäer selbst sind.
Über Raketenwaffen, die, um tatsächlich Europa gefährden können, eine
Reichweite von 5000 – 8000 Kilometern haben müssen, verfügt keines dieser so
genannten „Problemländer“. Und in der absehbaren Zukunft werden sie auch keine
haben, nicht einmal die Aussicht darauf. Selbst der hypothetische Start einer
nordkoreanischen Rakete in Richtung des Territoriums der USA über Westeuropa
hinweg, widerspricht allen Gesetzen der Ballistik. Wie man bei uns in Russland
sagt, ist das so, „wie wenn man sich mit der linken Hand am rechten Ohr
kratzt“.
Weil ich gerade hier in Deutschland bin, kann ich nicht umhin, an den
kritischen Zustand des Vertrages über die konventionellen Streitkräfte in
Europa zu erinnern.
Der adaptierte Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa wurde
1999 unterzeichnet. Er berücksichtigte die neue geopolitische Realität – die
Liquidierung des Warschauer Paktes. Seither sind sieben Jahre vergangen, und
nur vier Staaten haben dieses Dokument ratifiziert, darunter die Russische
Föderation.
Die NATO-Länder haben offen erklärt, dass sie den Vertrag, einschließlich der
Festlegungen über Begrenzungen bei der Stationierung einer bestimmten Stärke
von Streitkräften an den Flanken, so lange nicht ratifizieren werden, bis
Russland seine Basen in Moldawien und Georgien schließt. Aus Georgien ziehen
unsere Truppen ab, sogar im Eiltempo. Diese Probleme haben wir mit unseren
georgischen Kollegen geklärt, wie allen bekannt sein dürfte. In Moldawien
verbleibt eine Gruppierung von anderthalb Tausend Wehrpflichtigen, die
friedensfördernde Aufgaben erfüllen und Munitionslager bewachen, die noch aus
Zeiten der UdSSR übrig geblieben sind. Wir sind ständig im Gespräch mit Herrn
Solana über diese Probleme und er kennt unsere Position. Wir sind bereit, auch
weiterhin in dieser Richtung zu arbeiten.
Aber was geschieht zur selben Zeit? In Bulgarien und Rumänien entstehen so
genannte leichte amerikanische Vorposten-Basen mit jeweils 5000 Mann. Das
bedeutet, dass die NATO ihre Stoßkräfte immer dichter an unsere Staatsgrenzen
heranbringt, und wir, die wir uns streng an den Vertrag halten, in keiner Weise
auf dieses Vorgehen reagieren.
Ich denke, es ist offensichtlich, dass der Prozess der NATO-Erweiterung
keinerlei Bezug zur Modernisierung der Allianz selbst oder zur Gewährleistung
der Sicherheit in Europa hat. Im Gegenteil, das ist ein provozierender Faktor,
der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens senkt. Nun haben wir das Recht zu
fragen: Gegen wen richtet sich diese Erweiterung? Und was ist aus jenen
Versicherungen geworden, die uns die westlichen Partner nach dem Zerfall des
Warschauer Vertrages gegeben haben? Wo sind jetzt diese Erklärungen? An sie
erinnert man sich nicht einmal mehr. Doch ich erlaube mir, vor diesem
Auditorium daran zu erinnern, was gesagt wurde. Ich möchte ein Zitat von einem
Auftritt des Generalsekretärs der NATO, Herrn Wörner, am 17. Mai 1990 in
Brüssel bringen. Damals sagte er: „Schon der Fakt, dass wir bereit sind, die
NATO-Streitkräfte nicht hinter den Grenzen der BRD zu stationieren, gibt der
Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien.“ Wo sind diese Garantien?
Die Steine und Betonblocks der Berliner Mauer sind schon längst zu Souvenirs
geworden. Aber man darf nicht vergessen, dass ihr Fall auch möglich wurde dank
der historischen Wahl, auch unseres Volkes, des Volkes Russlands, eine Wahl
zugunsten der Demokratie und Freiheit, der Offenheit und echten Partnerschaft
mit allen Mitgliedern der großen europäischen Familie.
Jetzt versucht man, uns schon wieder neue Teilungslinien und Mauern
aufzudrängen – wenn auch virtuelle, trotzdem trennende, die unseren gesamten
Kontinent teilen. Soll es nun etwa wieder viele Jahre und Jahrzehnte dauern und
den Wechsel von einigen Politiker-Generationen, um diese neuen Mauern zu
„demontieren“?
Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir treten eindeutig für die Festigung des Regimes der Nichtweiterverbreitung
ein. Die bestehende völkerrechtliche Basis erlaubt es, eine Technologie zur
Herstellung von Kernbrennstoff für friedliche Zwecke auszuarbeiten. Und viele
Länder wollen auf dieser Grundlage eigene Kernenergie erzeugen als Basis ihrer
energetischen Unabhängigkeit. Aber wir verstehen auch, dass diese Technologien
schnell für den Erhalt waffenfähigen Materials transformiert werden können.
Das ruft ernsthafte internationale Spannungen hervor. Das deutlichste Beispiel
dafür ist die Situation um das iranische Atomprogramm. Wenn die internationale
Gemeinschaft nicht eine kluge Entscheidung zur Lösung dieses
Interessenkonflikts ausarbeitet, wird die Welt auch künftig von solchen
destabilisierenden Krisen erschüttert werden, weil es mehr Schwellenländer gibt
als den Iran, wie wir alle wissen. Wir werden immer wieder mit der Gefahr der
Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln konfrontiert werden.
Im vergangenen Jahr hat Russland eine Initiative zur Schaffung multinationaler
Zentren zur Urananreicherung vorgelegt. Wir sind dafür offen, solche Zentren
nicht nur in Russland zu schaffen, sondern auch in anderen Ländern, wo eine
legitime friedliche Kernenergiepolitik existiert. Staaten, welche die Erzeugung
von Atomenergie entwickeln wollen, könnten garantiert Brennstoff über die
unmittelbare Beteiligung an der Arbeit dieser Zentren erhalten, unter strenger
Kontrolle der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEO).
Mit dem russischen Vorschlag im Einklang stehen auch die jüngsten Initiativen
des USA-Präsidenten George W. Bush. Ich meine, dass Russland und die USA objektiv
und in gleichem Maße an einer Verschärfung des Regimes der
Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln und den Mitteln ihrer
Erlangung interessiert sind. Gerade unsere Länder, die mit ihrem Kernwaffen-
und Raketenpotenzial an der Spitze stehen, sollten sich auch an die Spitze
stellen bei der Ausarbeitung neuer, härterer Maßnahmen bei der
Nichtweiterverbreitung. Russland ist dazu bereit. Wir führen Konsultationen mit
unseren amerikanischen Freunden.
Insgesamt sollten wir über die Schaffung eines ganzen Systems politischer Hebel
und ökonomischer Anreize reden, unter denen die Staaten interessiert sind,
nicht eigene Möglichkeiten für Kernbrennstoff-Zyklen zu schaffen, und trotzdem
die Gelegenheit hätten, die Kernenergie für die Stärkung ihres
Energiepotenzials zu nutzen.
In diesem Zusammenhang verweile ich etwas länger bei der internationalen
Zusammenarbeit im Energiebereich. Die Frau Bundeskanzlerin hat ebenfalls kurz
zu diesem Thema gesprochen. Im Energiebereich orientiert sich Russland auf die
Schaffung von für alle einheitlichen Marktprinzipien und transparenter
Bedingungen. Es ist offensichtlich, dass der Preis für Energieträger sich dem
Markt anpassen muss und nicht zum Spielball politischer Spekulationen,
ökonomischen Drucks oder von Erpressung sein darf.
Wir sind offen für Zusammenarbeit. Ausländische Unternehmen beteiligen sich an
unseren größten Projekten zur Energiegewinnung. Nach unterschiedlichen
Einschätzungen entfallen bis zu 26 Prozent des in Russland geförderten Erdöls -
merken Sie sich bitte diese Zahl! – auf ausländisches Kapital. Versuchen Sie
bitte, mir ein Beispiel von einer ähnlich breiten Beteiligung russischer
Unternehmen an Schlüsselbereichen der Wirtschaft westlicher Staaten zu nennen.
Es gibt keine!
Ich erinnere auch an das Verhältnis von Investitionen, die nach Russland
kommen, und jener, die aus Russland in andere Länder auf der Welt gehen. Dieses
Verhältnis ist etwa 15:1. Hier haben Sie ein leuchtendes Beispiel für die
Offenheit und Stabilität der russischen Wirtschaft.
Wirtschaftliche Sicherheit, das ist die Sphäre, in der sich alle an
einheitliche Prinzipien halten müssen. Wir sind bereit, ehrlich zu
konkurrieren.
Dafür hat die russische Wirtschaft immer mehr Möglichkeiten. Das schätzen auch
die Analysten und unsere ausländischen Partner ebenso ein. So wurde erst
kürzlich das Rating Russland in der OECD erhöht: aus der vierten Risikogruppe
stieg unser Land in die dritte Gruppe auf. Ich möchte hier und heute in München
die Gelegenheit nutzen, unseren deutschen Kollegen für die Zusammenarbeit bei
der genannten Entscheidung zu danken.
Weiter. Wie Sie wissen, ist der Prozess der Einbindung Russlands in die WTO in
der Endphase. Ich stelle fest, dass wir im Laufe langer, schwieriger
Verhandlungen nicht ein Wort über die Freiheit des Wortes, über
Handelsfreiheit, Chancengleichheit gehört haben, sondern ausschließlich zu
unserem, dem russischen Markt.
Noch zu einem anderen wichtigen Thema, das unmittelbar die globale Sicherheit
beeinflusst. Heute reden viele von dem Kampf gegen die Armut. Aber was passiert
denn wirklich? Einerseits werden für die Hilfsprogramme zugunsten der ärmsten
Länder Finanzmittel zur Verfügung gestellt, und nicht einmal geringe. Aber ganz
ehrlich, auch das wissen viele, ist es so, dass sich Unternehmen der
Geber-Länder dieses Geld „aneignen“. Zur selben Zeit werden andererseits in den
entwickelten Ländern die Subventionen in der Landwirtschaft aufrechterhalten,
wodurch für andere der Zugang zur Hochtechnologie begrenzt wird.
Nennen wir die Dinge doch beim Namen: Mit der einen Hand wird „wohltätige
Hilfe“ geleistet, aber mit der anderen wird nicht nur die wirtschaftliche
Rückständigkeit konserviert, sondern auch noch Profit gescheffelt. Die
entstehenden sozialen Spannungen in solchen depressiven Regionen führen
unausweichlich zum Anwachsen des Radikalismus und Extremismus, nähren den
Terrorismus und lokale Konflikte. Aber wenn das zudem noch, sagen wir, im Nahen
Osten geschieht, unter den Bedingungen eines zugespitzten Verständnisses der äußeren
Welt als einer ungerechten, dann entsteht das Risiko einer globalen
Destabilisierung.
Es ist klar, dass die führenden Länder der Erde die Gefahr sehen müssen. Und
dementsprechend ein demokratischeres, gerechteres System der wirtschaftlichen
Beziehungen in der Welt schaffen müssen – ein System, dass allen die Chance und
die Möglichkeit der Entwicklung geben muss.
Bei einem Auftritt auf der Sicherheitskonferenz darf man nicht mit Schweigen
das Wirken der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
übergehen. Sie wurde bekanntermaßen gegründet, um alle – ich unterstreiche alle
– Aspekte der Sicherheit zu überprüfen: den militärpolitischen, den
ökonomischen, den humanitären – und dabei alle in ihrem Zusammenhang.
Was sehen wir heute in der Praxis? Wir sehen, dass dieses Gleichgewicht klar
gestört ist. Es wird versucht, die OSZE in ein vulgäres Instrument der
Absicherung außenpolitischer Interessen der einen oder anderen Staatengruppe
gegenüber anderen Staaten zu verwandeln. Dieser Aufgabe wurde auch der
bürokratische Apparat der OSZE untergeordnet, der überhaupt nicht mit den
Teilnehmerländern verbunden ist. Dieser Aufgabe untergeordnet wurden auch die
Prozeduren für die Annahme von Entscheidungen und die Ausnutzung so genannter
„Nicht-Regierungs-Organisationen“. Ja, sie sind formal unabhängig, werden aber
zielgerichtet finanziert, das heißt kontrolliert.
Entsprechend den allgemein gültigen Dokumenten ist die OSZE aufgerufen, mit den
Mitgliedsländern, auf deren Bitte hin, bei der Überwachung der Einhaltung
internationaler Normen auf dem Gebiet der Menscherechte zusammenzuarbeiten. Das
ist eine wichtige Aufgabe, die wir unterstützen. Aber das bedeutet keine
Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten und erst recht
nicht, diesen Staaten aufzudrängen, wie sie zu leben und sich zu entwickeln
haben.
Es ist klar, dass eine solche Einmischung nicht dem Reifen von wirklich
demokratischen Staaten dient. Im Gegenteil, es macht sie abhängig, und im
Ergebnis dessen politisch und wirtschaftlich instabil.
Wir erwarten, dass die OSZE sich von ihren unmittelbaren Aufgaben leiten lässt
und ihre Beziehungen mit den souveränen Staaten auf der Grundlage der Achtung,
des Vertrauens und der Transparenz gestaltet.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Zum Abschluss möchte ich Folgendes bemerken. Wir hören sehr oft, auch ich
persönlich, von unseren Partnern, auch den europäischen, den Aufruf an
Russland, eine noch aktivere Rolle in den Angelegenheiten der Welt zu spielen.
In diesem Zusammenhang gestatte ich mir eine kleine Anmerkung. Man muss uns
kaum dazu ermuntern oder drängen. Russland ist ein Land mit einer mehr als
tausendjährigen Geschichte und fast immer hatte es das Privileg, eine
unabhängige Außenpolitik führen zu können.
Wir werden an dieser Tradition auch heute nichts ändern. Dabei sehen wir sehr
genau, wie sich die Welt verändert hat, schätzen realistisch unsere eigenen
Möglichkeiten und unser Potenzial ein. Und natürlich möchten wir gerne mit
verantwortungsvollen und ebenfalls selbstständigen Partnern zusammenarbeiten am
Aufbau einer gerechten und demokratischen Welt, in der Sicherheit und Aufblühen
nicht nur für Auserwählte, sondern für alle gewährleistet ist.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Quelle:
www.russland.ru