Polnische Nachkriegspogrome
Ein Buch, das Polen erschüttern wird
Mit Jan Tomasz Gross' Thesen über die Nachkriegspogrome
an Juden in Polen erreicht die "Jedwabne-Diskussion"
neue Dimensionen
Dem Holocaust hätten die Polen
gern zugesehen, viele davon aus der Zerstörung jüdischen Lebens gar materielle
Vorteile gezogen, von Wohnungen, Mobiliar und Gold eifrig Besitz ergriffen. Die
aus den KZ zurückkehrenden Juden hätten bei ihren Nachbarn daher regelrechte
Schuldkomplexe erzeugt. Beide ‑ das nur mühsam verdeckte unreine Gewissen
und die Angst um das unrechtmäßig Erworbene ‑ seien deshalb ursächlich
für polnischen Nachkriegsantisemitismus.
Die These erscheint in dem
vielbeachteten Buch "Fear. Anti‑Semitism in Poland after
Auschwitz" (Random House, New York 2006), und ihr Urheber ist beileibe
kein Unbekannter: Jan Tomasz Gross sorgte bereits 2000 mit dem Werk
"Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne" für heftige
Kontroversen. Der 59jährige Soziologe, 1969 aus Polen in die USA emigriert,
lehrt in Princeton Geschichte und seine Zunft das Fürchten: Er weist den Polen
einen NS‑gleichen Rang bei der Vernichtung seines Volkes zu.
Der Mord an der jüdischen
Gemeinschaft in der nordostpolnischen Kleinstadt Jedwabne im Sommer 1941, kurz
nach dem Einmarsch der Wehrmacht und der panikartigen Flucht der Sowjets, sei
von Polen gewollt, organisiert und ausgeführt worden. Aus den Umständen der Tat
schließt Gross auf ewigen Judenhaß und willige Vollstreckungsbereitschaft. Dabei
nimmt er für seine Beweisführung Argumente in Anspruch, die von denen eines
Daniel Goldhagen nicht allzu weit entfernt liegen: er löst das Verbrechen aus
seiner geschichtlichen Verankerung (und klammert dabei den deutschen Anteil
aus), verfünffacht die tatsächliche Opferzahl (aus etwa 300 werden es bei ihm
1.600) und läßt das Geschehen wie einen Ausbruch geschichtsloser
Primitivinstinkte aussehen.
Daß dieses Buch dennoch zum
meistdiskutierten Geschichtswerk der letzten Jahre in Polen aufsteigen konnte,
hat aber gerade mit seinen Schwachstellen zu tun. Denn nur indem Gross die Wirklichkeit
der sowjetischen Besatzung in Ostpolen 1939‑1941 hartnäckig ausblendet,
kann er das Bild einer Gemeinschaft konstruieren, die wie eine schuldlose Insel
im wütenden Ozean polnischen Antisemitismus wirkt.
Indes ist die Geschichte um
einiges komplexer: Das Judentum im Vorkriegspolen, religiös und sozial
benachteiligt, entwickelt lange vor Kriegsausbruch starke Sympathien für die
Sowjetunion. Der Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen am 17. September 1939
weckt zusätzliche Hoffnungen. Bogdan Musial beschreibt in
"Konterrevolutionäre Elemente sind zu erschießen" (Propyläen, 2000)
eindringlich, wie die bisherigen Bürger zweiter Klasse nun massenhaft in den
sowjetischen Besatzungsapparat einrücken, Polizei und Verwaltung beherrschen,
Zwangsarbeit und Gesinnung überwachen. Im kollektiven polnischen Gedächtnis
prägt sich das Bild "des" Juden ein als das eines eifrigen
Erfüllungsgehilfen bei der Vertreibung, Verfolgung und Vernichtung von Polen in
den knapp zwei Jahren sowjetischen Terrors.
Judenpogrome in Krakau 1945 und Kielce 1946
Die Niederlage der Roten Armee
in Ostpolen im Sommer 1941 öffnet der Vergeltung Tor und Tür, die sich
besonders dort entlädt, wo die Täter zuvor vielfach selbst Opfer waren. Die
Morde aus polnischer Hand an den Juden im Osten sind unzweifelhaft, vielfach
ist anzunehmen, daß der Wille zur Vergeltung nicht erst mühsam durch die
Einsatzgruppen entfacht werden mußte. Was allerdings nicht stimmt, ist die
These vom genetisch bedingten Judenhaß. So kann nur schreiben, wer sich
Geschichte zu einem vorbestimmten Denkmuster zurechtstrickt. Läßt man hingegen
dieses fallen, bietet sich ein ganz anderes Bild der Pogrome 1941, in dem Haß
und Vergeltung, Rache und Demütigung im Kräftefeld zweier totalitärer
Diktaturen eine entscheidende Rolle spielen.
Da Gross auf den ewigen
Judenhaß abzielt, muß er ihn konsequent von jeglicher Verbindung mit Geschichte
abkoppeln. Dies ist das eiserne Prinzip von "Fear", wo er den
polnischen Antisemitismus der frühen Nachkriegszeit mit den Judenpogromen in
Krakau 1945 und Kielce 1946 unter die Lupe nimmt. Der Wille zur
Realitätsverfälschung ist in "Fear" so ausgeprägt, daß Gross gar
imaginäre Gewissensbisse und platte Besitzangst als Hauptgründe ins Feld führt.
Dagegen findet sich hier keine Spur von politischer Rivalität, sozialer
Feindschaft, gar pro‑ oder antisowjetischen Optionen, wie sie etwa bei
Krystyna Kersten zu finden sind in "Polen, Juden, Kommunismus: Anatomie
der Halbwahrheiten 1939‑1968" (Warschau 1992).
Zwischen 1939 und 1945 wandelt
sich nämlich der Judenhaß in Polen erheblich. Die Juden, gerade noch ein
Prozent der Bevölkerung (bis 1939 zehn Prozent), leben nicht mehr auf dem
Lande, handeln nicht mehr mit Optionen, sie zwingen diese als neue politische
Elite auf. Im neuen Unterdrückungsapparat überproportional stark vertreten ‑
in der Zentrale des Sicherheitsdienstes besetzen Juden 29 Prozent der Stellen,
aus heutiger Sicht prominentester Vertreter der Literaturkritiker Marcel Reich‑Ranicki
‑, bleiben sie als Protagonisten einer brutal durchgepeitschten
prosowjetischen Politik deutlich erkennbar. Sie werden also, was sie bis 1939
nicht waren: politische Feinde. Aus der Sicht des radikalen Untergrunds sind Pogrome
folglich Beiträge zur Befreiung von der Fremdherrschaft, Morde an jüdischen
Funktionären und Offizieren gar patriotische Taten.
Um diese Erkenntnis kommt
Gross nur herum, indem er den Zusammenhang zwischen politischem Judentum und
forcierter Sowjetisierung 1945 und 1946 in Polen verharmlost. Das
bewerkstelligt er mit Hilfe der gleichen Technik, die schon in
"Nachbarn" zur Anwendung kam. Der Leser erfährt also nicht, daß die
polnische Gesellschaft die politisch aktiven Juden für sowjetische Handlanger
hält, daß die Kommunisten einen Vernichtungszug gegen die politische Opposition
führen, daß schließlich täglich Transporte mit "Konterrevolutionären"
nach Sibirien abgehen. Statt dessen steht er immer wieder vor einem Rätsel,
denn die Judenpogrome von Krakau und Kielce bleiben ohne den Bezug auf die
politische Nachkriegswirklichkeit nicht erklärbar.
Als Entstellung polnischer Wirklichkeit
bezeichnet
"Fear" wurde in den
USA mit enthusiastischen Kritiken bedacht (davon eine ganz prominente, aus der
Feder von Elie Wiesel in der Washington
Post vom 25. Juni 2006) und für die "Wiederentdeckung einer
vergessenen Tragödie" (gemeint ist der Pogrom in Kielce) überschwenglich
in Los Angeles Times, New York Sun und
Baltimore Sun gelobt. In Polen hielt
sich das Lob selbst dort in Grenzen, wo eine Grundübereinstimmung mit Gross bei
"Nachbarn" vorhanden war. Adam Michnik, einflußreicher Chefredakteur
der Gazeta Wyborcza, wies die
Rezension von Elie Wiesel als Entstellung polnischer Wirklichkeit zurück, und
sein Washingtoner Korrespondent Marcin Gadzinski zeigte sich in seiner
Rezension zu "Fear" (Gazeta
Wyborcza vom 5. Juni 2006) geradezu distanziert. Dennoch mag er mit der
gewählten Überschrift recht behalten. Diese lautet: "'Fear' ‑ ein
Buch, das Polen erschüttern wird".
Quelle: Andrzej Madela in JUNGE FREIHEIT vom 18.8.2006