Polnische Expansion nach dem 1. Weltkrieg

 

Pilsudski kam es zugute, daß andere Polen während seiner Internierung in Deutschland nichts Bedeutendes zu erreichen vermochten. Er wurde wäh­rend der deutschen Revolution entlassen und kehrte eiligst nach Polen zurück. Am 14. November 1918 übertrug der Kronrat seine Vollmachten an Pilsudski, und die Polen, die sich trotz der ernsten wirtschaftlichen Lage in einem nationalen Freudenrausch befanden, standen vor ganz neuen Aufgaben. Pilsudski war sich der Tatsache bewußt, daß nun Machtkämpfe unter den politischen Parteien entbrennen würden. Sein erster Schritt war, die Polnische Sozialisten­partei (PPS) Kongreßpolens und die Sozialdemokratische Partei (PPSD) Galiziens unter seiner Führung zu festigen. (Joseph Pilsudski, Pisma Zbiorowe, V, S. 24 f; Pobog-Malinowski, Najnowsza Historja Polityczna Polski 1864 – 1945, Paris 1953, I, S. 367 f; M. Kukiel, Czartoryski and European Unity, Bellona 1959, IV, S. 323)

Pilsudski hatte einen bedeutenden taktischen Vorteil, den er äußerst ge­schickt wahrzunehmen wußte. Er war Sozialist und hatte für die Deutschen ge­kämpft. Seine politischen Hauptgegner, die Nationaldemokraten, waren bei den Westmächten angesehen. In dem Waffenstillstandsabkommen mit Deutschland im November 1918 wurde Polen nicht erwähnt und bald danach begann eine langwierige Friedenskonferenz. In Versailles galt Pilsudski als persona non grata. Bereitwillig drückte er den Nationaldemokraten sein Ver­trauen für ihre Verhandlungsbemühungen in Paris um eine polnische Ein­heitsfront aus. Nicht er, sondern seine Gegner hatten die Aufgabe, Vorteile für Polen bei der Friedenskonferenz zu erwirken. Doch mußten diese Bemühungen mit Sicherheit dazu führen, dem Ansehen seiner Gegner zu schaden, da die polnischen Forderungen so maßlos waren, daß ihre Erfüllung nahezu unmöglich wurde. Pilsudski hatte also freie Hand, sich der inneren Lage Po­lens zuzuwenden. Er nutzte seine Zeit gut und verlor keinen Augenblick die politische Initiative, die er während jener Tage gewonnen hatte. Seiner Sache diente ein Abkommen mit den Deutschen, das er bereits am 10. November 1918, also vor dem Waffenstillstand im Westen, geschlossen hatte. Nach die­sem Abkommen sollten die Besatzungstruppen mit ihren Waffen abziehen, um sie an der Grenze niederzulegen (deutsch-kongreßpolnische Grenze, die in Brest-Litowsk 1918 bestätigt wurde). Diese Operation wurde genau am 19. November 1918 abgeschlossen, wobei man die Abmachungen auf beiden Seiten gewissenhaft erfüllte. (Vgl. Pilsudskis Proklamation Zolnierze Niemieccy! In Pisma Zbiorowe, V, S. 13 f; vgl. Auch Pilsudskis Brief “Lieber Herr Roman!” an Dmowski vom 21. Dez. 1918 zu „D’Union Sacré Polonaise“ bei der Friedenskonferenz, S. 45; Casimir Smogorzewski, La Pologne Restaurée, Paris 1927, S. 47)

Der polnische Nationalausschuß in Paris unter dem Vorsitz von Dmowski und seinen Nationaldemokratcn befand sich in einer wesentlich ungünstige­ren Lage. Die Diplomaten Englands und Frankreichs behandelten die Polen mit Herablassung und Ministerpräsident Clemenceau machte Paderewski, dem Hauptmitarbeiter Dmowskis bei den Friedensverhandlungen, klar, daß Polen seine Unabhängigkeit nach seiner Ansicht den Opfern der Alliierten verdanke (sic!). (Titus Komarnicki, Rebirth of the Polish Republic. A Study in the Diplomatic History of Europe 1914 – 1920, London 1957, S. 280)  Die polnischen Unterhändler waren überdies mit der Judenfrage be­lastet. Sie sahen sich vor Forderungen amerikanisch-jüdischer Gruppen gestellt, deren Plan es war, einen selbständigen jüdischen Staat innerhalb Polens zu gründen. Präsident Wilson stand diesen Forderungen durchaus wohlwol­lend gegenüber. Er betonte am 1. Mai 1919 vor dem Rat der Vier (USA, Großbritannien, Frankreich, Italien), daß „die Juden in Polen etwas ungastlich behandelt werden“. In einem Memorandum vom 15. Juni 1919 erklärte Pade­rewski die polnische Haltung zur Judenfrage dahingehend, daß die Juden Po­lens die polnische Sache bei „vielen Anlässen“ als verloren betrachtet und sich auf die Seite der Feinde Polens gestellt hätten. Zuletzt wurden die meisten der jüdischen Forderungen eingeschränkt; immerhin zwang der Artikel 93 des Versailler Vertrages die Polen, sich mit einem Sonderabkommen für Minderhei­ten einverstanden zu erklären, was ihnen im höchsten Maße missfiel. (Komarnicki, a.a.O., S. 280)

Ohne Lloyd George hätten die polnischen Unterhändler die Erfüllung ihrer extremen Forderungen an Deutschland erreicht, denn Präsident Wilson und die Franzosen waren ursprünglich geneigt, alles zu bewilligen, was sie ge­fordert hatten. Dmowski verlangte die Grenzen von 1772 im Westen, ferner das deutsche Industriegebiet in Oberschlesien, schließlich die Stadt Danzig und die südlichen Randgebiete Ostpreußens. Darüber hinaus forderte er die Bil­dung eines separaten Staates aus dem restlichen Ostpreußen, der unter polni­scher Aufsicht stehen sollte, und später verlangte er noch einen Teil Mittel­schlesiens für Polen. (...)

 

Quelle: „Der erzwungene Krieg. Die Ursachen und Urheber des Zweiten Weltkrieges“ von David L. Hoggan, 15. Aufl., Tübingen 1997, S. 32 f (Hervorhebung vom Bearbeiter)