Polens Westverschiebung
Vor sechzig Jahren wurde die alte Forderung der polnischen Exil-Regierung
nach der Oder-Neiße-Linie offiziell zur britischen Politik
Die Suche dauerte Jahre und gestaltete
sich schwierig. Im Frühjahr 1944 hatte sie noch immer kein Ende gefunden. Die
Dominien des Empire lehnten die Londoner Pläne ebenso ab, wie es die
lateinamerikanischen Staaten taten. Außerdem legten gegen diesen letzten
Vorschlag die USA. ihr Veto ein. Da kam Sir Orme Sargent scheinbar eine
rettende Idee. Es müsse doch wohl möglich sein, so überlegte sich der zweithöchste
Beamte des britischen Außenministeriums, die deutsche Bevölkerung Ostpreußens
und Schlesiens in Sibirien unterzubringen.
Was heute wie makabre Satire
wirkt, wurde dann in der Tat die gültige Beschlußlage des interministeriellen
Ausschusses für den "Transfer deutscher Bevölkerungsteile", der in
London eigens zu diesem Zweck gebildet worden war. Im Juni 1944 abgeschlossen,
umfaßte der begründende Bericht fünfzig Druckseiten. Es war nicht vergessen
worden, Zwangsarbeit der Deportierten vorzusehen, während die Regierung Seiner
Majestät mit den genauen Modalitäten der Vertreibung formal nicht belastet werden
wollte.
Auch wurde nicht festgelegt,
wie Stalin das Projekt schmackhaft gemacht werden sollte. Man setzte auf die
Brutalität der Roten Armee und des Sowjetsystems, die die Dinge schon richten
würden. Das Ganze werde nur machbar sein, wenn man den Sowjets freie Hand
ließe, erläuterte Sargent. Sie würden skrupellos vorgehen und sich an keinerlei
Regeln oder Abmachungen halten. Außerdem sei das Problem dann quasi einer
Endlösung zugeführt, setzte er dazu. In Sibirien wären die Deutschen ein für
allemal "vergessen", statt in einem übervölkerten Restdeutschland
vielleicht für unerwünschte politische Unruhe sorgen zu können.
Für Ostpreußen und Schlesien
hatte es frühzeitig keine Hoffnung mehr gegeben. Was immer der zweite Weltkrieg
sonst noch war, für die östlichsten Teile Deutschland tendierte er von Beginn seiner
Entstehungsphase in Richtung Vernichtungskrieg. Man "hofft jetzt im
stillen in Warschau nicht nur auf die bedingungslose Integration Danzigs in den
polnischen Staatsbereich, sondern auf viel mehr, auf ganz Ostpreußen, auf
Schlesien, ja auf Pommern", berichtete Völkerbundkommissar Carl J.
Burckhardt bereits im Sommer 1938 nach einem Gespräch mit dem polnischen
Außenminister Jozef Beck. Diese Ziele zogen sich durch die europäische Politik
bis hin zum Kriegsausbruch und natürlich auch danach. Polens neuer
Außenminister August Zaleski trug seinem britischen Kollegen gleich im Oktober
1939 die Forderung nach Ostpreußen vor. Im November brachte der Exil-Ministerpräsident
Wladislaw Sikorski dann schon den Gedanken an eine umfangreichere Kompensation
auf deutsche Kosten ins Gespräch.
Es hätte eigentlich ein Wagnis
sein müssen, gerade gegenüber britischen Politikern so zu sprechen, denn
schließlich verlief die neue, Ende September festgelegte russische Westgrenze
recht genau entlang der Curzon‑Linie, die in London nicht wenigen als
legitime Ostgrenze Polens galt. Zu "kompensieren" gab es daher
eigentlich nichts, wenn man sich nicht den zynischen Standpunkt zu eigen
machte, daß Polen aus dem Verlust von illegitim okkupiertem Gebiet im Osten ein
Recht auf illegitim okkupiertes Gebiet im Westen ableiten könnte. So traf diese
Argumentationslinie im Foreign Office auch zunächst auf wenig Gegenliebe. Ganz
abgesehen davon, daß man dort in dieser Frühphase des Krieges von einer
abgeschlossenen Vision der "Nachkriegsordnung der Sieger" noch weit
entfernt war, wiesen die zuständigen Referate auf die Volksabstimmung von 1919
hin, die den deutschen Charakter Ostpreußens drastisch bewiesen hatte: 97,5
Prozent der Bevölkerung stimmten für Deutschland, ein bis heute unerreichter
Weltrekord in einer freien Abstimmung, die durch alliierte Truppen
international überwacht wurde.
Damals waren keine Fragen über
die nicht vorhandene Berechtigung des polnischen Anspruchs auf Ostpreußen
offengeblieben, und wohl auch deshalb war jetzt das britische Außenministerium
nicht gleich bereit, den polnischen Wünschen entgegenzukommen. Langfristig
wirkten die polnischen Ambitionen auf weite Teile Ostdeutschlands aber anregend
auf die Phantasie der britischen Nachkriegsplanung.
Westgedanke als feste Größe im polnischen Nationalismus
Den radikalen Plänen Robert
Vansittarts, Chefberater des Londoner Außenministeriums, wurde zwar eine Absage
erteilt. Sie waren darauf
hinausgelaufen, in Deutschland vierzig bis fünfzig Millionen Menschen auszulöschen. Das war auch für Winston
Churchill zuviel, der es als "dumm" bezeichnete. Aber in einer Vertreibungslösung
für Ostdeutschland bot sich den britischen Planern doch die Chance, der
Gestaltung Nachkriegseuropas neben den umfangreichen Bestimmungen eines
militärisch‑wirtschaftlichen Friedensvertrags (die sich nach dem Ersten
Weltkrieg als unwirksames Instrument erwiesen hatten) und einer Teilung
Deutschlands (der kaum Chancen auf längeren Bestand eingeräumt wurden) ein
substantielles drittes Standbein in Gestalt einer Verkleinerung des deutschen
Siedlungsgebiets hinzuzufügen. An den so geschaffenen Tatsachen würden
politische Entwicklungen in Deutschland nicht mehr rütteln können. Humanitäre
Erwägungen oder die Menschenrechte der betroffenen Bevölkerung spielten keine
tragende Rolle.
Offiziell war im Herbst 1939
nur von Ostpreußen, Danzig und Teilen Schlesiens die Rede, aber der polnische
Exilgeneralstab ging in seinen Verwaltungsplänen für die neuerworbenen Gebiete
in der Regel schon von der Grenze Stettin‑Frankfurt/Oder‑Breslau
aus. Und da bereits in der Vorkriegszeit die deutsche Bevölkerung in Polen als
Bedrohung der polnischen Militäroperationen empfunden und "evakuiert"
worden war, muß man nicht damit rechnen, daß der polnische Generalstab
innerhalb des anvisierten Gebietszuwachses irgendwelche Deutschen dulden
wollte. Dies folgte einer Linie, die 1931 in einer Denkschrift des polnischen
Auswärtigen Amts vorgegeben worden war, wo die Oder-Neiße‑Grenze als
Ziel der polnischen Expansion genannt wurde. Solche Gedanken genossen in der
polnischen Öffentlichkeit und dem Generalstab seit den zwanziger Jahren
durchaus Popularität. Mit Billigung der Regierung wurde im Sommer 1939 dann
umfangreich in diese Richtung agitiert, eine Kampagne, die im Londoner Exil
dann mit britischer Unterstützung weitergeführt wurde.
Die britische Regierung ließ
solche Veröffentlichungen natürlich nicht mit dem Zweck einer Selbstentlarvung
der polnischen Expansionspläne der Vorkriegszeit zu. Sie bereitete ihre
Öffentlichkeit schon zu diesem Zeitpunkt darauf vor, daß den langjährigen
polnischen Aspirationen diesmal bei Kriegsende nachgegeben werden würde.
Alle Interpretationen, die Vertreibungspolitik der Nachkriegszeit sei
eine bloße Reaktion auf das deutsche Besatzungsregime im späteren
Generalgouvernement, gehen an der Chronologie der Ereignisse vorbei. Der Westgedanke
hatte in verschiedenen Varianten seit gut einem Jahrhundert seinen festen Platz
in der Vorstellungswelt des polnischen Nationalismus und seit der
Jahrhundertwende auch in der Gedankenwelt führender Politiker.
Er paßte zu den Obsessionen im
Londoner Außenministerium, wo man als eines der obersten Kriegsziele die
"Junker‑Klasse" auszulöschen gedachte, eine Zielsetzung, die
entscheidend dazu beigetragen hat, daß neben Ostpreußen und Schlesien den
polnischen Hoffnungen auch in bezug auf Pommern stattgegeben wurde. Am Ende
wurde dennoch nicht die ganze Bevölkerung Ostdeutschlands nach Sibirien
deportiert.
Auch der Grund hierfür war
jedoch nicht wirklich ein humaner. In Restdeutschland sei wegen der Millionen
Kriegsopfer mittlerweile Platz genug für die Ostdeutschen, soll Churchill in
Jalta gesagt haben. Die Suche hatte ein Ende gefunden.
Quelle: Stefan Scheil in JUNGE FREIHEIT vom 17./24. Dezember 2004
("Westverschiebung mit Londons Gnaden")
Anmerkung: Die Richtigkeit dieser Fakten, die den Lügen und
Teilwahrheiten in den BRD-Geschichtsbüchern diametral entgegenstehen, wird
unter anderem bestätigt von dem amerikanischen Historiker David L. Hoggan
("Der erzwungene Krieg. Die Ursachen und Urheber des Zweiten
Weltkrieges", 15. Auflage, 1997), dem britischen Historiker A. J. P.
Taylor ("The Origins of the Second World War", London 1961) und dem
deutschen Politologen Udo Walendy ("Wahrheit für Deutschland. Die
Schuldfrage des zweiten Weltkrieges", 4. Auflage, Vlotho 1997).