Pogrome in der russischen Bürgerkriegszeit (1917 – 1923)

 

Solschenizyn spart nicht mit Kritik an Pogromen wäh­rend der Bürgerkriegszeit, besonders in der Ukraine, die mehrfach ihre Besitzer gewechselt hatte (Weißgardisten, ukrainische Unabhängige, deutsche Truppen, Bolschewiki). Dabei berichtigte er historische Darstellungen, die behaup­ten, daß jene Pogrome Auslöser für nachfolgende Racheakte der Tscheka gewesen seien.

   "Die zeitliche Abfolge war genau umgekehrt: Diese 80% [Ju­den innerhalb der Tscheka von Kiew] gehörten schon 1918 oder Anfang 1919 der Tscheka an, die Welle der Petljura-Pogrome lief aber erst im Laufe des Jahres 1919 und die Pogrome der Weißen erst im Herbst desselben Jahres durch das Land." (Alexander Solschenizyn in “Die Juden in der Sowjetunion”, München 2003, S. 145)

   Nachdem am 11.1.1918 die »Regierung der unabhängigen Ukraine« und Parteiführungen beschlossen hatten, ihr Land von Rußland abzutrennen, und sich vor den einrückenden Bolschewisten nach Shitomir absetzten, waren die zahlreich in Kiew lebenden Juden sogleich zu den Roten mit ihrem "Klassen"-terror übergelaufen. Bei Beurteilung aller nachfol­genden Vorgänge bleibt zudem wesentlich, daß öffentliche Aufrufe zum Massenterror und "Klassen"-mord ausschließ­lich die bolschewistische Seite erlassen hatte.

Am 9.2.1918 hatte Deutschland in Brest-Litowsk mit der Ukraine Frieden geschlossen, mit Rußland erst am 3. März 1918. In einem Ergänzungsvertrag vom 27. August 1918 hat­ten die Bolschewisten die staatliche Unabhängigkeit sowohl der Ukraine als auch Finnlands und der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen anerkannt.

Ein Monat Bolschewistenherrschaft hatte genügt, um in der Ukraine enorme Rachegefühle auszulösen, als die natio­nale Regierung im Februar 1918 als Folge des Brest-Litowsker Friedens wieder in ihre Hauptstadt Kiew zurückkehren konnte. Während zurückkehrende Milizen aus Bauern und Kosaken die "Jiddenkommissare" ergriffen und erschossen, hatten die deutschen Besatzungstruppen,

"die im Frühjahr 1918 in Kiew standen, ein offenes Ohr für die Bedürfnisse der jüdischen Bevölkerungsgruppe." (Alexander Solschenizyn in “Die Juden in der Sowjetunion”, München 2003, S. 159)

"Diese Gruppe war keineswegs klein: 1919 waren 21% der Einwohner Kiews Juden. ... Die Zionisten konnten sich unter dem Hetmann ungehindert entfalten; es kam zur Wahl einer eigenen jüdischen Provisorischen Nationalversammlung und ei­nes Jüdischen Nationalen  Sekretariats." (Alexander Solschenizyn in “Die Juden in der Sowjetunion”, München 2003, S. 151)

   Unter deutscher Herrschaft hat die ukrainische Regie­rung nicht nur einen Juden als Minister berufen, sondern auch den Zionisten unbehinderte Betätigung ermöglicht.

Erst nach Abzug der deutschen Truppen und Rückkehr des Direktoriums S.W. Petljura von Winniza nach Kiew bra­chen im Dezember 1918 bürgerkriegsähnliche Verhältnisse gegenüber den Juden aus.

"Den Juden wurde an allen Siegen der Bolschewisten die Schuld gegeben." (Alexander Solschenizyn in “Die Juden in der Sowjetunion”, München 2003, S. 151)

   Die Ausschreitungen gegenüber den ukraini­schen Juden unter der Petljura-Herrschaft (Solschenizyn nennt eine Fülle von Ortsnamen und Daten, a.a.O., S. 155) verbreiteten nicht nur Schrecken und Massenfluchten, sondern verstärkten auch deren Hinwendung zu den Bolschewiki.

   "Zwischen Dezember 1918 und August 1919 veranstalteten die von Petljura geführten Kampfverbände Dutzende von Pogromen, in deren Ver­lauf nach Angaben einer Kommission des Interna­tionalen Roten Kreuzes etwa 50.000 Personen ge­tötet wurden. Der größte Pogrom fand am 15. Fe­bruar 1919 in Proskurow statt, ... nach einem ge­scheiterten bolschewistischen Umsturzver­such." (Alexander Solschenizyn in “Die Juden in der Sowjetunion”, München 2003, S. 152)

   Ein amerikanischer Forscher führte diese Bürgerkriegszustände weniger auf eine Regie­rungspolitik, als auf "eigenständige Reaktionen im Volk und bei den Bauern" zurück. Banden führten im Land ein Willkürregiment.

   Die Weißgardisten unter den Generalen P. N. Wrangel und A. I. Denikin, die angetreten waren, um Rußland von den Bolschewiki zu befreien, gerieten angesichts ihrer Erkenntnisse, daß die Roten von den jüdi­schen Kommissaren usurpiert seien, (Alexander Solschenizyn in “Die Juden in der Sowjetunion”, München 2003, S. 158) in eine antisemiti­sche Grundhaltung, obgleich sie - vielfach vergeblich - be­müht blieben, Ausschreitungen ihrer Truppen zu verhindern.

Die Geschichte dieser russischen Bürgerkriegsverhält­nisse ist von der Tatsache gekennzeichnet, daß sie - weitest­gehend ausschließlich - von den Bolschewisten nach Verhän­gung absoluter Informationssperre sowie von in- und auslän­dischen Juden geschrieben worden ist. Und beide sind in ihren Angaben vom Grundsatz her unzuverlässig, da sie in parteili­cher Interessenbindung verstrickt geblieben sind. Daher ist es außerordentlich schwierig, wenn nicht gar unmöglich, ge­naue Zahlen und Umstände zu erfahren. Entsprechend schwan­ken die angegebenen Opferzahlen der Pogrome aus der russi­schen Bürgerkriegszeit zwischen 70.000 und 200.000. 900 Massenpogrome sollen es gewesen sein, durchgeführt von den Petljura-Leuten des ukainischen Direktoriums 40%, von ukrainischen Banden 25%, von Mannschaften General Denikins 17% und von der Ersten Reiterarmee des bolschewisti­schen Generals S. M. Budjonny 8,5%.

"Die Roten begingen Judenpogrome früher als alle anderen. ... Im ersten Winter der Bolschewikenherrschaft verübten die unter dem roten Banner kämpfenden Truppen eine Reihe blutiger Pogrome, unter denen besonders jene von Gluchow und Nowgorod-Sewerskij wegen der großen Anzahl der Opfer, der vorsätzlichen rohen Gewaltakte und der gemeinen Verhöhnung der Gequälten hervorstachen und damit auch noch die Greuel des Pogroms von Kalusch in den Schatten stellen. ..." (Alexander Solschenizyn, S. 167)

Einheiten der Roten Armee, die aus der Ukraine abzogen, veranstalteten im Frühling 1918 Pogrome mit dem Schlacht­ruf: »Haut die Jidden und die Bourgeois!«. Besonders grau­same Pogrome veranstaltete die Erste Reiterarmee bei ih­rem Rückzug aus Polen Ende August 1920. In den Weiten Rußlands ging anfangs bei den Roten offensichtlich manches bei der Konfrontation von Reichtum und Armut auch durch­einander.

Der Zionist Arno Lustiger vermerkte, daß die jüdischen Bolschewisten ihre nicht zum Bolschewismus übergetrete­nen Glaubensbrüder "nicht schonten und sie blutig und grausam verfolgten". (Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, Düsseldorf, 24. Mai 1990)

"Ihren Weg säumten Tausende getöteter Juden, Tausende vergewaltigter Frauen und Dutzende jüdischer Ortschaften, in denen alles geraubt worden war, was nicht niet- und nagelfest war. ... In Shitomir markierte eine jede der Seiten, und dies fast jedes Mal, sobald ein neuer Machthaber in die Stadt einrückte, ihre Machtübernahme mit einem Pogrom. All diese Pogrome seitens Petljura, der Polen oder der Sowjets — hatten eine Besonderheit: die beträchtliche Anzahl der Getöteten." (Alexander Solschenizyn in “Die Juden in der Sowjetunion”, München 2003, S. 168)

Die Gesamtzahl der Pogromopfer aus der Bürgerkriegs­zeit von 1917 -1923 wird mit "nicht weniger als 100.000 Men­schen" angegeben. (Michail Heller / Alexander Nekrich, "Geschichte der Sowjetunion 11/ 1940 - 1980", (aus d. russ.), Königstein 1982, S. 144)

   Solschenizyn schließt dieses Kapitel ab mit einem Rückblick auf das verursachende hemmungslose Vorgehen der kommunistischen Revolutionäre, die zur Ausrottung ganzer Klassen und Enteignung des gesamten Volkes geschritten waren, alles raubten, plünderten, brandschatzten und nieder­machten, was ihnen im Wege zu stehen schien. Diese Hem­mungslosigkeit und das damit verbundene Banditentum lö­sten ähnlich hemmungslose Reaktionen auf den anderen Bür­gerkriegsfronten aus, die man an sich eher gleichermaßen als revolutionäre Auswüchse für alle betroffenen Bevölkerungs­teile bezeichnen sollte, statt sie für eine besondere Bevöl­kerungsgruppe mit dem Sonderbegriff "Pogrome" zu verse­hen, hatten doch die Genozidmaßnahmen der roten Revolutio­näre eine ideologisch verbrämte Dauerfolge von Pogromen gegen alle anderen ausgelöst.

Simon Petljura fiel übrigens einem GPU-Mordagenten in Paris zum Opfer.

 

Quelle: William W. Douglas in „Historische Tatsachen“ Nr. 95 / S. 17 - 19