Otto Wels

Sozialdemokraten von seinem Schlage gibt es heute nicht mehr!

Am 31. Januar 1933 war Hitler, als der Führer der stärksten Partei im Reichstag nach langen Vorverhandlungen vom Reichspräsidenten Hindenburg zum Kanzler einer Koalitionsregierung ernannt worden.

Nachdem die wirtschaftliche Krise auch mit Hilfe von 102 Notverordnungen weder von dem Reichskanzler Brüning noch von Schleicher bewältigt worden war, schien die allgemeine Notlage nach außerordentlichen Maßnahmen zu verlangen. Hitler drängte schon im November 1932 auf ein zeitlich fixiertes Ermächtigungsgesetz. Nur wenige konnten die Tragweite einer solchen Entscheidung an diesem Wendepunkt der neueren deutschen Geschichte voraussehen, zumal auch in den ersten Notzeiten der Weimarer Republik von 1922 bis 1924 zeitbegrenzte Ermächtigungen an die Exekutive erteilt worden waren.

Der Ausgang der Reichstagswahl am 5. März 1933, die den beiden Koalitionsparteien, der NSDAP und den Deutschnationalen, mit 340 von insgesamt 647 Sitzen nur die einfache Mehrheit brachte, gab dem Streben nach einem Ermächtigungsgesetz neuen Auftrieb. ...

Das für das Schicksal Deutschlands und Europas verhängnisvolle Ermächtigungsgesetz, das mit der verfassungsändernden Mehrheit von 441 gegen 94 Stimmen angenommen wurde, stieß nur bei der Sozialdemokratischen Partei auf entschlossene Ablehnung, die der Abgeordnete Otto Wels in seiner mutigen Ansprache unter Berufung auf die Grundsätze der Menschlichkeit und das unveräußerliche Rechtsbewußtsein als moralischer Macht vor der Geschichte zu begründen wußte.

(Quelle: "Reden die die Welt bewegten", Karl Heinrich Peter (Hg.), Stuttgart 1959)

Meine Damen und Herren!

Der außenpolitischen Forderung deutscher Gleichberechtigung, die der Herr Reichskanzler erhoben hat, stimmen wir Sozialdemokraten um so nachdrücklicher zu, als wir sie bereits von jeher grundsätzlich verfochten haben. Ich darf mir wohl in diesem Zusammenhang die persönliche Bemerkung gestatten, daß ich als erster Deutscher vor einem internationalen Forum, auf der Berner Konferenz am 3. Februar des Jahres 1919, der Unwahrheit von der Schuld Deutschlands am Ausbruch des Weltkrieges entgegengetreten bin. Nie hat uns irgendein Grundsatz unserer Partei daran hindern können oder gehindert, die gerechten Forderungen der deutschen Nation gegenüber anderen Völkern der Welt zu vertreten.

Der Herr Reichskanzler hat auch vorgestern in Potsdam einen Satz gesprochen, den wir unterschreiben. Er lautet: "Aus dem Aberwitz der Theorie von ewigen Siegern und Besiegten kam der Wahnwitz der Reparationen und in der Folge die Katastrophe der Weltwirtschaft." Dieser Satz gilt für die Außenpolitik; für die Innenpolitik gilt er nicht minder. Auch hier ist die Theorie von den ewigen Siegern und Besiegten, wie der Herr Reichskanzler sagte, ein Aberwitz.

Das Wort des Herrn Reichskanzlers erinnert uns aber auch an ein anderes, das am 23. Juli 1919 in der Nationalversammlung gesprochen wurde. Da wurde gesagt: "Wir sind wehrlos, wehrlos ist aber nicht ehrlos. Gewiß, die Gegner wollen uns an die Ehre, daran ist kein Zweifel. Aber, daß dieser Versuch der Ehrabschneidung einmal auf die Urheber selbst zurückfallen wird, da es nicht unsere Ehre ist, die bei dieser Welttragödie zugrunde geht, das ist unser Glaube bis zum letzten Atemzug." Das steht in einer Erklärung, die eine sozialdemokratisch geführte Regierung damals im Namen des deutschen Volkes vor der ganzen Welt abgegeben hat, vier Stunden bevor der Waffenstillstand abgelaufen war, um den Weitervormarsch der Feinde zu verhindern. - Zu dem Ausspruch des Herrn Reichskanzlers bildet jene Erklärung eine wertvolle Ergänzung.

Aus einem Gewaltfrieden kommt kein Segen; im Innern erst recht nicht. Eine wirkliche Volksgemeinschaft läßt sich auf ihn nicht gründen. Ihre erste Voraussetzung ist gleiches Recht. Mag sich die Regierung gegen rohe Ausschreitungen der Polemik schützen, mag sie Aufforderungen zu Gewalttaten und Gewalttaten mit Strenge verhindern. Das mag geschehen, wenn es nach allen Seiten gleichmäßig und unparteiisch geschieht, und wenn man es unterläßt, besiegte Gegner zu behandeln, als seien sie vogelfrei. Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.

Nach den Verfolgungen, die die Sozialdemokratische Partei in der letzten Zeit erfahren hat, wird billigerweise niemand von ihr verlangen oder erwarten können, daß sie für das hier eingebrachte Ermächtigungsgesetz stimmt. Die Wahlen vom 5. März haben den Regierungsparteien die Mehrheit gebracht und damit die Möglichkeit gegeben, streng nach Wortlaut und Sinn der Verfassung zu regieren. Wo diese Möglichkeit besteht, besteht auch die Pflicht. Kritik ist heilsam und notwendig. Noch niemals, seit es einen Deutschen Reichstag gibt, ist die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten durch die gewählten Vertreter des Volkes in solchem Maße ausgeschaltet worden, wie es jetzt geschieht, und wie es durch das neue Ermächtigungsgesetz noch mehr geschehen soll. Eine solche Allmacht der Regierung muß sich um so schwerer auswirken, als auch die Presse jeder Bewegungsfreiheit entbehrt.

Meine Damen und Herren! Die Zustände, die heute in Deutschland herrschen, werden vielfach in krassen Farben geschildert. Wie immer in solchen Fällen, fehlt es auch nicht an Übertreibungen. Was meine Partei betrifft, so erkläre ich hier: wir haben weder in Paris um Intervention gebeten, noch Millionen nach Prag verschoben, noch übertreibende Nachrichten ins Ausland gebracht. Solchen Übertreibungen entgegenzutreten wäre leichter, wenn im Inlande eine Berichterstattung möglich wäre, die Wahres vom Falschen unterscheidet. Noch besser wäre es, wenn wir mit gutem Gewissen bezeugen könnten, daß die volle Rechtssicherheit für alle wiederhergestellt sei. Das, meine Herren, liegt bei Ihnen.

Die Herren von der Nationalsozialistischen Partei nennen die von ihnen entfesselte Bewegung eine nationale Revolution, nicht eine nationalsozialistische. Das Verhältnis ihrer Revolution zum Sozialismus beschränkt sich bisher auf den Versuch, die sozialdemokratische Bewegung zu vernichten, die seit mehr als zwei Menschenaltern die Trägerin sozialistischen Gedankengutes gewesen ist und auch bleiben wird. Wollten die Herren von der Nationalsozialistischen Partei sozialistische Taten verrichten, sie brauchten kein Ermächtigungsgesetz. Eine erdrückende Mehrheit wäre Ihnen in diesem Hause gewiß. Jeder von Ihnen im Interesse der Arbeiter, der Bauern, der Angestellten, der Beamten oder des Mittelstandes gestellte Antrag könnte auf Annahme rechnen, wenn nicht einstimmig, so doch mit gewaltiger Majorität.

Aber dennoch wollen Sie vorerst den Reichstag ausschalten, um Ihre Revolution fortzusetzen. Zerstörung von Bestehendem ist aber noch keine Revolution. Das Volk erwartet positive Leistungen. Es wartet auf durchgreifende Maßnahmen gegen das furchtbare Wirtschaftselend, das nicht nur in Deutschland, sondern in aller Welt herrscht. Wir Sozialdemokraten haben in schwerster Zeit Mitverantwortung getragen und sind dafür mit Steinen beworfen worden. Unsere Leistungen für den Wiederaufbau von Staat und Wirtschaft, für die Befreiung der besetzten Gebiete werden vor der Geschichte bestehen. Wir haben gleiches Recht für alle und ein soziales Arbeitsrecht geschaffen. Wir haben geholfen, ein Deutschland zu schaffen, in dem nicht nur Fürsten und Baronen, sondern auch Männern aus der Arbeiterklasse der Weg zur Führung des Staates offensteht. Davon können Sie nicht zurück, ohne Ihren eigenen Führer preiszugeben. Vergeblich wird der Versuch bleiben, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Wir Sozialdemokraten wissen, daß man machtpolitische Tatsachen durch bloße Rechtsverwahrungen nicht beseitigen kann. Wir sehen die machtpolitische Tatsache Ihrer augenblicklichen Herrschaft. Aber auch das Rechtsbewußtsein des Volkes ist eine politische Macht, und wir werden nicht aufhören, an dieses Rechtsbewußtsein zu appellieren.

Die Verfassung von Weimar ist keine sozialistische Verfassung. Aber wir stehen zu den Grundsätzen des Rechtsstaates, der Gleichberechtigung, des sozialen Rechtes, die in ihr festgelegt sind. Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten. Sie selbst haben sich ja zum Sozialismus bekannt. Das Sozialistengesetz hat die Sozialdemokratie nicht vernichtet. Auch aus neuen Verfolgungen kann die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen.

Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht verbürgen eine hellere Zukunft.

 

Anmerkungen: Der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Dr. Theodor Heuss, stimmte als Reichstagsabgeordneter für das Hitlersche Ermächtigungsgesetz! Die den Nationalsozialismus vorbereitenden Ideen kamen kamen keinesfalls aus den Gehirnen eines Hitler, Goebbels, Rosenberg, Feder und anderer ihrer Zeitgenossen... Daraus ergibt sich aber auch, daß jene oft gebrauchten Begriffe einer "Kollektivschuld" oder "Kollektivscham", wie sie Heuss aus seiner persönlichen Mitschuld heraus zu wiederholen pflegte, einer wissenschaftlichen Wahrheitssuche nicht standhalten.

Heuss schrieb 1932 in "Hitlers Weg", es sei unsicher, wer sich mehr beleidigt fühle, der Sozialdemokrat oder der Nationalsozialist, wenn man Ferdinand Lasalle und Adolf Hitler nebeneinander nenne.

Auch wurde in der Bundesrepublik gerne der Schleier des Vergessens über die Tatsache gehüllt, daß Heuss während des Dritten Reiches Presseartikel in der Goebbels-Zeitung "Das Reich" zu Papier brachte.

Darin zeigt sich allerdings ein allgemeines Phänomen der Renazifizierung der BRD. Heuss wurde Mitglied im Lions-Club (Gründung der weltweiten jüdischen Loge "Brüder des Bundes") und erhielt damit Absolution um den Preis einer bestimmten Nachkriegspolitik in der BRD. Das gleiche Phänomen sah man beispielsweise bei den teilweise schwer belasteten Rotariern Dr. Helmut Lemke (Ministerpräsident von Schleswig-Holstein), Gerhard Gaul (Justizminister von Schleswig-Holstein), Professor Dr. Theodor Eschenburg (Nestor der Staatsrechtslehre) usw. usw. Dieser Themenkreis wird von der Geschichtswissenschaft gemieden, wie der Teufel das Weihwasser scheut, weil es einige Bereiche der Geschichte des 20. Jahrhunderts gibt, die von interessierten Kreisen mit einem Tabu belegt wurden und diese Kreise sind so mächtig, daß sie jedem "Abweichler" die Karriere vermasseln können oder durch ihre Medienmacht als Psychopathen denunzieren können.